Vier Mariensagen
1. Maria Stein

Einst stand im Kanton Basel, hoch über dem Dorfe Ettlingen, eine feste Burg, der "Fürstenstein" genannt. Auf der Burg lebte damals einer der wackersten seines Namens, der Ritter Hans von Rothberg, der um seiner guten und tapferen Taten willen weitum im Lande hoch in Ansehen stand.

Eines Tages ritt der Ritter nach der reichen Stadt Basel zu Bekannten; vorher aber empfahl er frommen Sinnes Frau und Kinder dem Schutze Gottes.

Da es nun ein gar schöner Tag war, verließ die Burgfrau mit ihrem Töchterlein, das ein herziges Kind war, den Burgfrieden und lustwandelte ein wenig mit ihm auf den grünen, aussichtsreichen Anhöhen herum. Wie nun die Mutter ein schattiges Plätzchen gefunden hatte, ließ sie sich, etwas müde und schläfrig von den tausend Wohlgerüchen, die Wald und Flur ausatmeten, ins Farnkraut nieder. Mit sinkenden Augen sah sie dem lieblichen Spiel der Falter zu, und wie einschläfernde Musik tönten ihr das Summen der Bienen und das Zirpen der nimmermüden Grillen. Von Zeit zu Zeit brachte ihr das Kind in einem Körblein allerlei Blumen, die es in der Nähe zusammensuchte.

Aber nach und nach wagte sich das Töchterchen weiter weg und kam ins Gehölz, das an der Fluh stand.

Auf einmal fuhr die Mutter schreckensbleich auf. Ein fürchterlicher Aufschrei gellte vom Gehölz her. In verzweifelten Sprüngen stürzte sie auf die vom Unterholz verdeckte Fluh zu und sank dort in die Knie, denn von ihrem Töchterlein war auch nicht das geringste mehr zu sehen. Es mußte über den schrecklichen Absturz unter ihr ins tiefe Tal gefallen sein. Doch sie raffte sich auf und schrie gellend wohl hundertmal den Namen ihres lieben Kindes. Es war alles umsonst, kein Laut, kein Echo.

Da schoß sie auf und eilte so schnell als menschenmöglich auf stillen Pfaden hinunter ins Tal. Atemlos, mit aufgelösten Haaren, händeringend kam sie unten an.

Aber wie angewurzelt blieb sie stehen, denn ihr Kind, das sie zerschmettert am Felsen zu finden glaubte, eilte ihr freudestrahlend, ein Körblein voll Erdbeeren in der Hand, entgegen und rief: "Mutter, Mutter, da bin ich!" Doch die zu Tode geängstigte Mutter konnte kein Wort herausbringen. Sie drückte ihr wiedergefundenes Kind ans wild pochende Herz, und dann mußte sie sich, völlig ermattet, ins Gras niedersetzen. Sie schaute mit scheuen Augen nach der wandgähen Fluh und konnte es nicht begreifen, daß ihr Töchterlein nach diesem schaurigen Sturz mit dem Leben davongekommen sein sollte. Immer wieder schloß sie's ans Herz. Aber jetzt erzählte ihr das Kind, was mit ihm vorgegangen sei. Als die Mutter geschlafen habe, sei es zu weit an den Abhang hinausgegangen, weil es die gähe Fluh im Gestäude nicht gewahrt hätte. Auf einmal sei der Boden unter ihm verschwunden und es sei abgestürzt. Da habe es mitten im grausigen Fall eine wunderschöne Frau in die Arme genommen und es unten im Tale sanft auf den Rasen gesetzt. Dort habe es danach die Erdbeeren gepflückt, die es nun dem Vater bringen wolle.

Jetzt wußte die Mutter, daß die Jungfrau Maria ihr Töchterlein in ihrem Schoß aufgefangen hatte. Sie gingen heim, und die beglückte Mutter erzählte hastig dem eben von Basel zurückgekehrten Ritter, was dem Kinde begegnet sei. Der Vater aber war von diesem Wunder so erschüttert und voll Dankbarkeit, daß er auf der Anhöhe eine Kapelle erbaute. Später errichtete man da das Kloster Maria Stein.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.