Die Nachtspinnerin

Wenn am Urirotstock das Alpenglühen erlischt und die Nacht den grünen Bergsee des Vierwaldstättersees zu überschatten beginnt, wird es um den See ungeheurig. Und wenn der wilde Alpenwind, der Föhn, aus dem Lande Tells über die Wasser dahinfährt, daß die Wellen wie weißmähnige Rosse gegen Brunnen fahren, hört man aus dem Rauschen wohl ein seltsames Tuten und Brüllen, als ob der Stier von Uri auf dem einsamen Rütli gar gewaltig ins Horn stoße. Dann löschen die im Tale von Schwyz das Feuer im Herd, damit der allgewaltige Föhn nicht aus einem stillen Feuerlein einen Brand aufjage, der die Dörfer im ganzen Land verzehrt. In stillen Nächten aber, wenn's zu Brunnen am Bergsee die Mitternachtsstunde schlägt, sitzt die Nachtspinnerin auf der Leewasserbrücke und spinnt. Ihr hurtiges Spinnrad ist von reinem Silber und der Flachs darauf von lauter lötigem Gold.

Einst lebte zu Brunnen ein Mädchen, das seiner Mutter viel Verdruß machte, denn es war so faul, daß ihm der runde Blechlöffel beim Essen fast zu schwer war. Beim Spinnen aber sah sie immer durchs Fenster, und statt mit ihrem Fuß fleißig das Spinnrad zu treten, nickte sie ein und verschlief die halbe Zeit. Da mußte denn die alte Mutter um so emsiger am Spinnrad die Fädelein durch die Finger gleiten lassen, sonst wäre der schöne Flachs zugrunde gegangen.

Eines Tages aber wurde es der Mutter zu bunt, als sie gewahren mußte, wie ihre faule Tochter wieder über dem Spinnrad eingeschlafen war. Sie trat zu ihr hin, rüttelte sie unsanft aus dem Schlafe auf und sagte: "Schau auf, du faules Mädchen, und lerne vom Spinnlein, das da im Gestäude vor dem Fenster hängt, wie man spinnen und sich sein Brot verdienen muß!" Da erwachte die Tochter gähnend, und als sie die Mutter also reden hörte, wurde sie böse und sagte: "Wenn Ihr mir so kommt, so laufe ich lieber davon!" - "Ja, geh nur!" sagte die Mutter, "denn das Schlafen kann ich nötigenfalls selbst besorgen." Nun erhob sich die faule Tochter und verließ rasch die Stube, denn jetzt war sie auf einmal gar behend und flinkfüßig geworden. Wie die Mutter durchs Scheiblein schaute, sah sie die Tochter gegen den Bergwald hinauf laufen. Doch sie dachte, wenn's Essenszeit ist und Mittag läutet, kommt sie gerne genug wieder, und ließ sie also getrost laufen. Als aber die Abendsonne das Scheiblein rötete, und als gar die Nacht hereinbrach, ohne daß die Tochter sich blicken ließ, wurde die Mutter unruhig. Alle Augenblicke schlurfte sie ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Aber sie vermochte von ihrer Tochter weder etwas zu sehen noch zu hören. Nur zuweilen jubelte in das Rauschen des Bergsees das Jauchzen der ausrückenden Nachtbuben. Jetzt fing die Mutter an, sich ernstlich zu ängstigen. Es wurde später und später. Die Mutter klebte fast immer am Fenster. Bald sah sie vorne hinaus über den See, auf dem die Nebel wie wandernde Kriegerhorden einen Umgang hielten, und dann wieder hastete sie nach dem Küchenfenster hinten im Häuschen und schaute über das Tal von Schwyz, das der Mond beschien, der über den beiden Mythen stand. Aber auf einmal übernahm sie eine wahre Todesangst. Sie riß die Türe auf, fuhr das Haus hinunter und machte sich in die Nacht hinaus, um ihre faule Tochter zu suchen.

So geschwind es der alten Frau möglich war, stieg sie an die bewaldeten Höhen hinauf und rief überall nach ihrer Tochter.

Es dauerte ziemlich lange, bis sie endlich in die Matten bei Ingenbohl kam. Da antwortete auf ihr ängstliches Rufen eine verschlafene Stimme: "Da bin ich!" Die alte Frau ging der Stimme nach und fand bald hinter einer Dornhecke unter einem blühenden Kirschbaum ihre faule Tochter, die sich gähnend die Augen ausrieb und sagte: "Wie spät ist's? Ist's denn noch nicht Essenszeit? Oh, bin ich müd', bin ich müd'!" Da fragte sie die Mutter, was sie denn den ganzen Tag und die halbe Nacht getan hätte, daß sie so müd' sei. Nun stand die Tochter auf und sagte, sie sei vom Schlafen so müd', denn sie hätte hinterm Hag den ganzen Tag und die halbe Nacht geschlafen.

Obwohl nun die Mutter sehr böse wurde ob der Faulheit ihrer Tochter, sagte sie doch kein Wörtlein, denn sie war froh, daß sie sie nur wieder hatte. Dann aber nahm sie das Mädchen bei der Hand, und sie stiegen über ein Steinplattenweglein wieder ins Tal hinab, auf das die beiden Mythen gespenstig herabschauten. Eben schlug es die Mitternachtsstunde.

Als sie nun gegen Brunnen kamen und die Leewasserbrücke aus der Nacht auftauchte, wurde es der alten Frau unheimlich, denn sie bangte für ihre Tochter, die den ganzen Tag so faul war. Sie wußte wohl, daß es auf der Leewasserbrücke ungeheurig war und daß dort die Nachtspinnerin die faulen Mägdlein, die Tags nicht fleißig spannen, nie ungeschoren durchließ. Doch schlug sie ein Kreuz und ging fürbaß. Aber auf einmal blieb sie, von Furcht gepackt, stehen und zeigte schweigend nach der Leewasserbrücke, auf der etwas wie eine weiße Gestalt zu sitzen schien. "Siehst du die Nachtspinnerin?" flüsterte sie der Tochter zu. Doch diese lachte laut auf und sagte: "Mich sollt Ihr mit der dummen Nachtspinnerin nicht schrecken; es ist ja nur ein altes, steinernes Heiligenbild, was auf der Brücke steht."

Sie gingen der Brücke zu. Die Mutter sah fortwährend nach der unheimlichen Gestalt, die darauf zu sitzen schien. Die Tochter aber begann ein Lied zu trällern und schaute den Nachtfaltern zu, die sich in den Matten herumtrieben. Jetzt fing die Mutter langsam und zögernd zu gehen an, denn nun sah sie deutlich die Nachtspinnerin im schneeweißen Gewande mitten auf der Brücke sitzen und hörte ihr silbernes Rädlein schnurren. Sie schlug ein Kreuz und flüsterte ihrer Tochter zu: "Mach ein Kreuz und wende die Augen weg, die Spinnerin könnte dir Übles antun, denn heute hast du auch nicht ein einziges Fädelein gesponnen." Aber die Tochter bekreuzte sich nicht. Als sie zusammen über die Brücke an der unheimlichen weißen Spinnerin vorbeigingen, schaute sich das Mädchen frech nach ihr um. Da sah sie ein bleiches Gesicht, und plötzlich ging vom goldenen Flachs, der am Rocken hing, ein jäher Blitzstrahl aus, und geblendet mußte die faule Tochter die Augen niederschlagen.

Voll Entsetzen riß sie ihre alte Mutter fort, und also eilten sie über die Brücke, und ohne sich mehr umzusehen, heimzu. Als jedoch die Mutter in der Stube stand und Licht machte, sah sie zu ihrem Schrecken, daß die Tochter sich unsicher den Wänden nach tastete und den Tisch nicht zu finden wußte, worauf die kalte Milchsuppe stand. Da merkte sie, daß die Nachtspinnerin auf der Leewasserbrücke ihre faule Tochter mit Blindheit geschlagen hatte.

Jetzt erst erkannte das arme Mädchen sein Elend, und zeitlebens bereute es seine Faulheit. Denn nie mehr konnte es, wenn die Sonne frühmorgens die Berge vergoldete, aus dem vorderen Fensterlein an den strahlenden Firn des Urirotstockes hinaufschauen, nie mehr am Abend, wenn das Tal von Schwyz in einem rosigen Leuchten schwamm, durchs hintere Küchenscheiblein die beiden Mythen sich röten sehen.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.