Die Pilatussage

Ob der schöngelegenen Stadt Luzern am Vierwaldstättersee steht ein gewaltiger, zackiger Berg, der vormals Frakmunt hieß. Aber seitdem der Landpfleger Pilatus auf dem rauhen Berg haust, nennen ihn die Leute Pilatus.

Nämlich vor alter Zeit, als in Rom der mächtige Kaiser Tiberius am Aussatz erkrankte und ihn auch die geschicktesten griechischen Ärzte nicht zu heilen vermochten, vernahm er, daß in Jerusalem ein Arzt sei, der alle Kranken gesund machen könne. Er schickte also seinen treuen Diener Alban nach Jerusalem. Aber Pilatus, der römische Landpfleger, erschrak und wollte nichts von einem solchen Arzte wissen, der eben Jesus Christus war, den er vor kurzem hatte kreuzigen lassen. Inzwischen begegnete der Diener Alban der heiligen Veronika, die das Tüchlein besaß, auf dem das blutbefleckte Antlitz des Heilandes zu sehen war. Diese erzählte ihm das Leiden und Sterben des Gottessohnes, und so reisten sie heimlich zusammen nach Rom zurück, legten dem Kaiser das Schweißtuch auf, und er wurde sogleich gesund. Dann aber ließ er voller Zorn den ungetreuen Pontius Pilatus nach Rom rufen, damit er sich wegen seiner schlechten Verwaltung der jüdischen Provinzen verantworte.

Als aber Pilatus beim Kaiser Tiberius eintrat, empfing ihn der zum Erstaunen aller gar freundlich. Wie er jedoch wieder aus dem Palaste war, ergrimmte der Kaiser von neuem wider ihn. Man führte ihn also nochmals zu ihm hinein, aber der Kaiser behandelte den schlechten Landpfleger aufs neue wieder ganz freundschaftlich. Kaum war er wieder fort, wurde Tiberius gleich wieder wütend über ihn. Aber auch ein drittes Mal nahm ihn der Kaiser gütig auf und war wie verwandelt. Da wunderten sich alle am Hofe und sagten, das ginge nicht mit rechten Dingen zu. Nun zog man dem Pilatus das Oberkleid aus, und da entdeckte man darunter das ärmliche, ungenähte Gewand des gekreuzigten Heilandes. Wie man ihm das in des Kaisers Gegenwart abgenommen hatte, sah ihn der schrecklich an. Jetzt merkte Pilatus, daß ihm ein böses Ende bevorstehe. Und eines Morgens fand man ihn tot im Gefängnis; er hatte sich selbst entleibt.

Der Kaiser ließ seinen Leichnam in den Tiberfluß werfen, der die Siebenhügelstadt durchfließt. Aber da gab es in Rom Ungewitter und böse Seuchen aller Art, bis man den Leichnam wieder aus dem Tiber holte. Nun führte man den toten Pilatus nach Frankreich und versenkte ihn bei der Stadt Lyon in die Rhone. Doch auch da ging's bald zu wie in der Hölle, also daß man den Leichnam wieder herausfischte und nach der Bischofsstadt Lausanne verbrachte, um deren Mauern die Veilchen so süß duften. Aber auch im schweizerischen Waadtlande kam der Tote nicht zur Ruhe. Tag und Nacht pfiffen die Ungewitter um die geängstigte Stadt.

Jetzt hatte man aber genug. Man wollte den unruhigen Geist einmal an den richtigen Ort bringen. So trug man denn den toten Pilatus auf die rauhen Alpen des Frakmunts bei Luzern, wo man ihn in einen kleinen Bergsee warf.

Doch auf dem Berge, den die Leute nun Pilatusberg nannten, trieb es der böse Geist schrecklicher als jemals. Zwar lag der kleine Bergsee meistens finster und schweigsam da, und nie gefror er zu. Aber unversehens regte der böse Geist die Wasser in ihrer Tiefe auf. Dann stieg er heraus, von finsterem Nebel umgeben, und ließ Schmeißfliegen und stechendes Ungeziefer auf die entsetzten Hirten und ihre Herden los. Und um Mitternacht begann er oft in seinem See zu toben. Hochauf fuhren die Wasser, und auf einmal stürmte er heraus und jagte das weidende Vieh in alle Tobel und Schluchten hinein. Im Vorfrühling aber kämpfte er mit dem König Herodes in den Lüften und warf mit Lawinen nach ihm, die dann tosend zu Tal rasten. Die Sennen und die Umwohner des Berges sahen nur mit Schrecken an dem finstern Berg hinauf, dessen Haupt fast immer in einer schwarzen Nebelkappe steckte. Sie versuchten alles, um den bösen Geist zur Ruhe zu bringen, doch alle Beschwörungen wollten nichts helfen.

Da kam einmal ein fahrender Schüler aus der unterirdischen Schule zu Salamanca in die Stadt Luzern. Der anerbot sich, das gespensternde Ungetüm für immer in den See zu bannen. Er bestieg die höchste Spitze des Pilatusberges, das Mittagsgüpfi, und begann die Beschwörung. Aber trotz der fürchterlichen Beschwörung wich der böse Geist keinen Zoll. Die Felsen wankten unter dem fahrenden Schüler, daß er fürchten mußte, sie fallen mit ihm ab. Da begab er sich aufs Widderfeld. Hier nahm er den Kampf nochmals auf.

Wie es da schrecklich zugegangen sein muß, zeigt heute noch der für immer und ewig versengte Rasen, auf dem kein grünes Gräslein mehr gerät. Jedoch hier wurde der fahrende Schüler des widerspenstigen Pilatus Meister. Er bannte den bösen Geist bis zum Jüngsten Tag in sein Seelein zwischen dem Mittagsgüpfi und dem Gnappenstein. Auf einem Dämon in Roßgestalt fuhr Pilatus in das unheimliche Wasser hinein. Nur einmal im Jahre, am Karfreitag, und dann nur auf kurze Zeit, tauchte er dann auf einem Richterstuhl mitten im Seelein aus der Flut, vom Teufel an einer eisernen Kette gehalten. Er trug blutrote Amtstracht, seine Haare waren katzgrau und der Bart schneeweiß. Und da versuchte er dann immer die blutbefleckten Hände im Wasser zu waschen, aber umsonst. Wehe dem einsamen Gemsjäger und Hirten, der ihn so erblickte! Er mußte innert Jahresfrist sterben. Pilatus aber durfte nur so lange über dem Seelein verweilen, als in der Kirche zu Luzern die Passion abgehalten wurde. Kaum war sie vorüber, versank er wieder für ein Jahr in die schwarze Flut. Seither verhielt er sich ruhiger. Nur wenn man mit Steinen ins Seelein warf, ließ er schwere Ungewitter aufsteigen. Oft noch sahen die Hirten den bösen Geist plötzlich als wildes Roß oder als großen Hund oder gespenstiges Kalb vor sich stehen, wenn sie etwas Unrechtes im Sinne hatten.

Noch lange Zeit blieb der Pilatus ein unheimlicher Berg, denn wenn es in Luzern zunachtete, sah man aus seinen Wolken feurige Drachen über den See nach dem Rigiberg und nach dem Bürgenstock fliegen. Oft waren es so viele, daß es aussah, als gingen feurige Stege von Berg zu Berg. Es sollen im Bürgenstock die Drachen besonders zahlreich genistet haben, da er gespalten ist und nur durch eine goldene Kette, die rings um den Berg läuft, zusammengehalten wird.

Heute noch schauen die Jungen und Mägdlein aus der schönen Stadt Luzern gar oftmals an dem hochragenden Pilatusberg hinauf, denn er ist ihr Wetterprophet geworden, und da wissen sie folgendes Sprüchlein zu sagen:

"Hat der Pilatus einen Hut,
ist das Wetter fein und gut.
Trägt er aber eine Kappe,
fängt das Wetter an zu gnappe (schwanken).
Hat er einen Degen,
gibt es sicher Regen."

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.