Der Schatz zu Weingarten

An der Furkastraße, die aus dem urnerischen Urserntal ins Wallis hinüberführt, wobei sie am gewaltigen Rhonegletscher vorbeigeht, liegt das Dörflein Weingarten. In diesem Dörflein lebte einst ein Mann namens Niggi Eggel mit seiner Familie. Er war arm und hatte Mühe genug, sich und seine Haushaltung durchzubringen. Doch war er brav und tat sein Tagewerk unverdrossen. Eines Nachts nun träumte diesem Niggi Eggel, in Uri auf der Brücke werde er sein Glück finden. Als er erwachte, dachte er, es werde nur ein Traum gewesen sein wie ein anderer, und machte sich darüber weiter keine Gedanken. Wie er aber die zwei folgenden Nächte wieder den haargleichen Traum hatte, erzählte er ihn lachend seiner Frau. Diese aber war sehr gottesfürchtig und dachte, Gott werde ihrem Mann den Traum nicht umsonst eingegeben haben. Daher gab sie ihm den Rat, er solle eine Wallfahrt nach Maria Einsiedeln machen, dabei komme er ja auch über die Brücke in Uri, und wenn er auch auf der Brücke sein Glück nicht finde, so habe er doch eine gottgefällige Wallfahrt zur Mutter Gottes gemacht.

Niggi Eggel, dem der Rat seiner Frau allzeit viel galt, legte also eines Morgens den Zwerchsack über den Rücken und machte sich den Berg hinauf auf die Wallfahrt. Nach mühseliger Wanderung kam er über die Teufelsbrücke im Urnerland. Wohl sah er die donnernden Wasser unter der Brücke hinwegrasen, aber sonst gar nichts um den Weg, das ihm hätte auffallen können. So ging er getrost weiter und kam nach Einsiedeln, wo der vierzehnröhrige Brunnen vor dem Kloster sein eiskaltes Wasser ausströmt. Als er nun genug gebetet und seine Andacht verrichtet hatte, kehrte er auf dem gleichen Wege wieder zurück, und so gelangte er auch wieder zur großen Brücke im Lande Uri. Aber die Brücke war so leer und vereinsamt wie bei seiner Herreise. Das bedrückte ihn doch etwas, denn im stillen hatte er sich selber vom Traum einiges versprochen. Also blieb er einen Augenblick stehen und sah trübe in die tobenden Wasser hinunter.

Da klopfte ihm jemand auf die Schulter, und als er sich umwandte, stand ein Mann neben ihm und fragte ihn, ob er etwas verloren habe. "Nein", antwortete Niggi Eggel, "aber es hat mir von dieser Brücke etwas Dummes geträumt, an das ich zwar nicht glaube, doch mußte ich mich gleichwohl umsehen, ob sich der Traum hier nicht doch erfüllen könnte." Jetzt lachte der Unbekannte und sagte, er solle sich doch nicht um Träume kümmern, denn auch ihm habe etwas Seltsames geträumt: nämlich zu Weingarten sei im Keller eines alten Häuschens neben dem Stützbalken ein Hafen voll Geld vergraben. Er wisse nun aber gar nicht, wo in der Welt dieses Weingarten und dieses Häuschen sei. Doch rege er deswegen keinen Fuß, denn an Träume kehre er sich nicht im mindesten.

Niggi Eggel wurde auf einmal ganz still und nachdenklich. Dann nahm er scheinbar ganz gleichgültig Abschied von dem Unbekannten und schritt über die Brücke weiter. Nach langer Wanderung über den Furkapaß langte er zu Hause an. Obwohl es schon Abend und fast ganz dunkel war, nahm er gleich eine Hacke und begann beim Stützbalken seines Häuschens zu graben. Und siehe da, bald zeigte sich ein Topf, und wie er ihn heraushob, fand er darin einen reichen Geldschatz, den er rasch im Hause barg und von dem er keinem Menschen ein Sterbenswörtchen sagte.

Das Geld aber wandte er gut an. Er ließ sein altes Häuschen niederreißen und ein neues, stattliches Haus bauen, das heute noch steht. Dann vergrößerte er sein kleines Heimwesen und kaufte viel Land an, also daß jedermann zu merken begann, daß der arme Niggi Eggel ein wohlhabender Mann geworden sein müsse. Das kam auch der Obrigkeit zu Ohren, und diese fand nach langer Erdauerung und allseitiger Erwägung, das plötzliche Reichwerden des armen Mannes könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Niggi Eggel wurde gefangengenommen und des Diebstahls und der Hexerei beschuldigt. Wie sich nun der geängstigte Bauer in die Enge getrieben sah, erzählte er den Richtern offenherzig, wie er zu seinem Schatz gelangt sei. Allein diese wollten seine seltsame Geschichte nicht glauben und ließen ihn auf die Folter spannen, um das Geständnis eines Verbrechens aus ihm herauszuzwingen. Weil er aber kein Verbrechen begangen hatte, so konnte er auch keines bekennen. Doch die harten Richter ließen ihn nicht frei und folterten ihn immer wieder, hoffend, er werde doch noch ein Verbrechen oder eine Hexerei bekennen.

Während nun der arme Niggi Eggel im Kerker litt, erzählten sich die Leute nach und nach des Bauern wunderbare Traumgeschichte zu Berg und Tal. So kam die Geschichte bis ins Land Uri, wodurch sie auch jener unbekannte Mann erfuhr, der dem Niggi Eggel seinen Traum vom Schatz zu Weingarten erzählt hatte. Sogleich machte sich der brave Mann auf und reiste übers Gebirge ins Walliserland. Es war höchste Zeit, denn unterdessen war Niggi Eggel auf der Folter fast verschmachtet.

Wie nun die Richter das Zeugnis des Urners hörten, ließen sie den geplagten Bauern beschämt los und sprachen ihn frei. Und das Glück wich nicht mehr von seinem Hause, denn der Schatz blieb für Niggi Eggeis Kinder ein immerwährender Segen.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.