Der verschwundene Herzog

Auf einem Hügel zwischen den Dörfern Grandson und Montagny, im weinreichen Waadtlande, steht inmitten ernsthafter Tannen eine alte Eiche, die von den Eidgenossen gepflanzt worden sein soll, als sie dort den Herzog von Burgund schlugen. Vor vielen, vielen Jahren ging einst ein Landmann aus Montagny namens Johannes nahe an jenem Hügel vorbei. Er war tieftraurig, denn er hatte eben bei den Eltern seiner Geliebten um die Hand ihrer Tochter angehalten. Aber sie hatten ihn abgewiesen, weil er zu arm sei. Es war bitterkalt, denn es ging auf Weihnachten zu. Die ganze Gegend war verschneit, und trübselig klagte der abgewiesene Freier vor sich hin, denn nun würde er wohl seine Margrit, die er doch so lieb hatte, nie erhalten. Es dämmerte schon, als er am Hügel vorbeischritt.

Da war ihm mit einem Male, als höre er von dem Hügel herab, auf dem die alte Eiche stand, seinen Namen rufen. Wie er hinaufsah, schritt ein Mann in kostbarer Rüstung auf ihn zu und sprach: "Johannes, ich weiß wohl, was dich plagt. Sei aber getrost, es soll alles gut werden. Komme nächste Weihnachten nach der elften Nachtstunde allein auf diesen Hügel; da reicht die Zeit gerade hin, daß du mir etwas in den See tragen kannst. Und wenn du dann flink genug bist, mir bis um Mitternacht auch mein Wehrgehänge abzugürten, so sind die Schätze, die dieser Hügel birgt, dein, doch darfst du dabei kein Wort sprechen." Johannes hatte kaum Zeit, das Versprechen zu geben, da war der Ritter spurlos verschwunden.

Bis Weihnachten dauerte es noch zwei Tage. Erst wurde es dem Burschen doch schwer, als er bedachte, daß er das Versprechen gerade für die Heilige Nacht gegeben habe. Doch tröstete er sich damit, daß er's ja nur aus reiner Liebe zu seiner Margrit tue, wenn er versuche, einen Schatz zu gewinnen.

Eiskalt sahen ihn Himmel und Erde an, als er in der Heiligen Nacht, bebend vor Frost und heimlicher Bangnis, zu dem Eichenhügel ging. Alles war totenstill, und schon wollte er sich, von Angst erfaßt, wieder davonmachen. Da stand plötzlich der geharnischte Ritter wieder neben ihm. Lautlos winkte er ihn heran und führte ihn zur alten Eiche auf dem Hügel. An diese klopfte er mit seinem kostbaren Schwert, und sogleich versanken beide in die Erde.

Als sich der junge Waadtländer von seinem Schrecken erholt hatte, sah er sich in einer von vielen Säulen getragenen erleuchteten Halle. Die Wände starrten von Waffenzierat und Wappen aller Art, und darunter standen alte, schwere Geschütze. Dazwischen aber blinkte es aus zierlichen Gefäßen von Gold und Edelsteinen und allerlei Geschmeide. Aber unversehens kam aus einem dunklen Winkel der gewaltigen Halle eine große, kohlschwarze Katze gekrochen und mit feurigen Augen auf Johannes zugelaufen.

Dieser erschrak. Jedoch der Kriegsmann sagte: "Das ist meine Lieblingskatze. Nimm sie und trag sie zum Tophet. Dort schleudere sie in den See. Danach eile so rasch du kannst wieder hierher zurück. Hüte dich, eine einzige Minute zu versäumen, hüte dich, ein einzig Wörtlein zu sprechen. Es wäre dein Tod. Geh!"

Johannes faßte sich ein Herz. Er hob die knurrende schwarze Katze auf, und da stand er auch gleich, er wußte nicht, wie's gekommen, auf dem Hügel. So rasch als möglich eilte er mit der unheimlichen Katze auf den Tophet, einen Felsen am Neuenburgersee. Die Katze aber kratzte ihn also, daß er schon ausrufen wollte: Ei, du Donnerskatz! Doch er verschluckte es noch rechtzeitig und warf die schwarze Katze mit einem weiten Schwung in den See hinaus. Als er aber die blutiggekratzten Hände am See wusch, fing der an zu wellen und zu kochen, also daß Johannes sich schleunigst davonmachte und in den Hügel zurücksprang, der sich von selber auftat. Darin erwartete ihn der geharnischte Ritter. "Nimm dich jetzt zusammen", redete er ihn ernst an, "denn jetzt ist noch das Schwerste zu tun. Wisse, ich bin der Herzog Karl von Burgund. Seit ich eine Anzahl Schweizer auf diesem Hügel wortbrüchig an die Bäume hängen ließ, ist das Glück von mir gewichen. Hier muß ich nun schon Jahrhunderte sitzen und harren, bis ein Mensch kommt, der den Mut hat, mich zu entwaffnen und also zu erlösen. Junge Eichen habe ich aufwachsen und zu riesenhaften Bäumen und wieder zu faulen Baumstrünken werden sehen, aber keiner eures Geschlechtes war starkherzig genug, mir das Wort zu halten, wenn er versprach, mich zu erlösen. Sei du's nun, und alle deine Wünsche werden sich erfüllen. Gürte mir nur dieses Schwert ab, aber schweig!"

Johannes machte sich behend daran, aber seltsamerweise schien der Herzog auf einmal zu wachsen, denn er vermochte ihm nur mit knapper Not, auf den Zehenspitzen stehend, ans Wehrgehänge zu langen, das er ihm löste. Da glitt das schwere Schwert aus der Scheide und schnitt ihm eine Wunde. Ei, du Donnerssabel! wollte er aufschreien, aber er würgte es tapfer hinunter, und in diesem Augenblick schlugen die Turmuhren von Grandson und Yverdon zwölf. Damit war das Werk getan. Der Herzog von Burgund dankte dem jungen Waadtländer und ließ ihm die Auswahl unter den offen daliegenden Schätzen. Doch Johannes hatte nichts anderes bei sich als sein Taschentuch. Dieses füllte er rasch mit goldenen Talern an. Kaum hatte er das letzte Goldstück hineingezwängt, da ward es stockdunkel, und auf einmal stand er wieder zuoberst auf dem Hügel neben der alten Eiche. Aber das Geld im Tüchlein klirrte; es war nicht verschwunden.

Anderntags trat Johannes wieder bei den Eltern seiner geliebten Margrit ein. Erst wollten sie ihn fortjagen. Aber als er sein Tüchlein voll Goldtaler vor ihren Augen auf den Tisch heraustanzen ließ, änderten sie ihre Meinung und gaben ihm ihre Tochter mit Freuden zur Frau. Nun fühlte er sich glücklich und schenkte seinen Mitbürgern von Montagny eine Summe Geldes, woraus sie eine schöne Kirche bauen mußten, was sie denn auch taten.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.