Der versteinerte Ritter

Einst lebte ein böser Ritter namens Hans von Waldenburg. Dieser hatte eine feste Burg, die ob dem Städtlein Waldenburg im Baselgebiet stand. Obwohl er gar viel im Fenster lag, sah er doch nie einen Menschen an seinem Schlosse vorbeigehen, denn alle vermieden es mit weitem Umweg, da sie die Bosheiten des Ritters fürchteten. Aber das focht ihn nicht stark an. Es gefiel ihm, daß er so gefürchtet war und daß das ganze Land vor ihm zitterte. Auf jede Weise sog er das Land aus bis aufs Blut und behandelte die Untertanen wie wilde Tiere. Während sie sich für ihn im Schweiße ihres Angesichts abarbeiteten, hielt er mit seinen schlechten Zechgenossen lustige Tafelrunde auf der Waldenburg und ließ Tag und Nacht den Becher kreisen.

Am Ausgang des Städtchens, gegen Basel zu, stand ein armseliges Hüttlein, in dem ein dürftiger Taglöhner mit seiner Frau lebte. Auch er hatte eine Tafelrunde, aber es waren seine hungrigen Kinder, die um den Tisch kauerten und zusammen ein durchsichtiges Wassersüpplein auslöffelten. Denn zu weiterem langte es nicht, da der Taglöhner alles, was er verdiente, dem Zwingherrn auf der Waidenburg abliefern mußte.

Einmal, als sie noch halbhungrig um den Tisch saßen, trat der Fronbote ein und befahl den Hausvater auf die Burg, er müsse dort Steine tragen helfen. Da wurde der arme Mann zornig, denn er hatte schon das ganze Jahr durch für den Burgvogt fronen und sich Tag und Nacht abplagen müssen. Er hielt dem Boten die leere Suppenschüssel hin und rief: "Geh und sage deinem Herrn, er möge mir alle Tage wenigstens diese Schüssel in der Schloßküche füllen lassen, damit die Meinen nicht Hungers sterben, dann will ich für ihn arbeiten, sonst nie mehr, so wahr mir Gott helfe!"

Eilig machte sich der Fronbote davon. Doch bald erschien er wieder mit einigen Schloßknechten. Diese schleppten den armen Taglöhner trotz dem Wehegeschrei seiner Familie auf die Waldenburg, wo ihn der Ritter sogleich ins tiefste Burgverlies werfen ließ, in dem nichts als Kröten und Fledermäuse hausten.

Lange Zeit verging. Die Frau des Taglöhners wartete und wartete, aber der Hausvater kam nicht mehr heim. Dafür aber zog die schrecklichste Not in die Hütte ein. Der Hunger schaute mit hohlen Augen aus dem Herdloch, aus den leeren Milchkrügen und Suppenschüsseln. So kann es nicht mehr weitergehen, sonst sterben mir die Kinder noch alle Hungers, dachte die arme Mutter. Und eines Tages verließ sie starken Herzens das Häuschen und zog mit ihren Kindern gegen die Waldenburg hinauf. Es lag tiefer Schnee, und mit Ach und Not arbeitete sich die Arme zum Schloß hinauf. Auf einmal ging das Burgtor auf, und der Ritter ritt mit seinem Jagdgefolge hinaus in den kalten Wintertag. Vor ihm her stürmte kläffend seine Jagdmeute. Erst traten die Armen scheu zur Seite.

Wie aber der Zwingherr sich ihnen, strotzend vor Gesundheit und strahlend vor Fröhlichkeit, näherte, warf sich die arme Frau mit den Kindern vor ihn hin und bat ihn, ihren Mann doch um Gotteswillen freilassen zu wollen, denn wenn er sie nicht ernähre, kämen sie alle um.

Da runzelte der Ritter von Waldenburg seine Stirne, ließ die Reitpeitsche durch die Luft pfeifen und lärmte: "Weib, halte mich nicht auf! Wenn mein Weg mit heulendem Volk gepflastert ist, wer will sich da stark wundern, falls ich darüber hinwegreite wie über Kot?"

Aber die Frau hob ihre Kindlein empor und rief: "Gib diesen doch wenigstens so viele Stücklein Brot als deine Jagdhunde verschmähen!"

Jetzt kam ein satanisches Feuerlein in des Ritters Augen. Er winkte einen Jägerburschen zu sich heran, wies höhnisch auf die schweren Feldsteine, die aus dem Schnee guckten, und befahl, man solle sie dem Weibe überreichen. "Da habt ihr Brot, unverschämte Hungerschlucker!" rief er. "Zwar ist's hart, aber dafür hält's lange vor. Sobald ihr's zu Ende gegessen habt, will ich den Gefangenen freigeben."

Da flammte es auf im bleichen Angesicht des armen Weibes. Sie stand auf, packte das Roß des Ritters am Zügel und schrie: "So mögest du selber zu Stein werden, du Unmensch!"

Wütend wollte der Ritter über sie hinwegsprengen, doch die Füße, die die Sporen trugen, wurden ihm schwer; die aufgehobene Hand mit der Reitpeitsche sank langsam herab, und das Pferd schwand unter ihm hinweg. Und jetzt war der Ritter mit einem Male fahl und grau. Seine Augen wurden gläsern, und aus der versteinerten Brust drang noch ein dumpfes, schreckliches Stöhnen, und nun stand er als steinerne Bildsäule vor seinem eigenen Schlosse.

Seine Jäger und Knechte aber waren voller Entsetzen auseinandergestoben; es fürchtete jeder, er könne auch zu Stein verwandelt werden. So ward das Schloß leer. Die geknechteten Waldenburger eilten aus dem Städtchen herauf und befreiten all die Opfer, die in den Kerkern schmachteten, vor allem auch den armen Taglöhner, dem sie einen großen Teil von der Beute übergaben, die ihnen in der Burg zufiel.

Heute noch steht der steinerne Ritter am Eingang ins Schloß. Zwar ist er nicht mehr gut erkennbar, denn Wetter und Wind, die jahrhundertelang ihn umbrausten, ließen ihn arg verwittern. Aber wenn der Sturm gar wild in tiefen Winternächten um die Burg tobt, hört man vom verwunschenen Stein her ein seltsames Stöhnen.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.