Die weiße Gemse

In den Alpentälern der Schweiz gibt es immer noch viele Gemsen, und besonders bei den Salzleckestellen kann man sie gut beobachten. Da sterben denn auch die Gemsjäger nicht aus. Einer der verwegensten Gemsjäger im Schwyzer Bergland war der alte Marty, der Süma geheißen, der viele Hunderte dieser Grattiere zur Strecke gebracht hat und der mir von seinen Jagden gar viel und Wunderbares zu erzählen wußte, als ich als ein angehender Junge auf der Käsernalp herumlag. Ich könnte schier ein Buch damit füllen, wenn ich wollte. Besonders sträußte ich die Ohren, wenn er von der geheimnisvollen weißen Gemse berichtete. Dann tat ich Mund und Ohren also auf, daß der Wind durchzog.

Aber im Bernerland wohnte vor alten Zeiten ein Gemsjäger, dem erging's mit der weißen Gemse gar bös. Rieggi hieß er. Tag und Nacht war er auf der Jagd. Kein Berg war ihm zu hoch, kein Felsenband zu abschüssig, kein Föhnsturm zu wild. Bei Blitz und Donner, in Nebel und Frost zog er mit seinem sichern Stutzen auf die Hochjagd, und selten kam er leer heim. Sein Leben galt ihm nicht mehr als ein abfallendes Blatt, wenn er einmal einem rechten Gemsbock auf der Spur war. Frevelhafterweise verschonte er aber auch die Gemsgeißen nicht, deren Junge dann ohne Mutter elend verhungern mußten. Und obwohl ihn die Leute gar oft warnten, lachte er über alle guten Räte und jagte, wie er wollte. Schon hatte er neunundneunzig Gemsen geschossen. Statt sich nun vor der Hundertsten zu fürchten, die dem Jäger als Warnerin erscheint und die ein schneeweißes Fell trägt, freute er sich darauf und sagte, er wolle nicht ruhen noch rasten, bis er auch die hundertste Gemse zu Fall gebracht habe, und wenn sie zehnmal weiß sei.

Die alten Leute, die solche leichtfertigen Reden hörten, schüttelten die Köpfe und sagten unter sich, es werde mit dem Gemsjäger Rieggi noch ein böses Ende nehmen.

Eines Tages nun machte sich der Rieggi jauchzend auf die Jagd. Die hundertste Gemse wollte er sich holen. Also stieg er ins Gebirge hinauf. Nach und nach kam er ins Gsür, auf einen mächtigen Gebirgsstock zwischen St. Stephan und Adelboden. Auf ihm fühlten sich alle Tiere sicher und wohlgeborgen, und daher nannte man diesen Berg "Die Mutter der Tiere". Aber ihm war kein Berg heilig, vor ihm und seinem sichern Gewehr fanden die Tiere nirgends eine Freistatt, auch im wilden Gsür nicht.

Wie er nun hoch am Berge saß und eine Weile rastete, stand auf einmal da, wo sich das Rothorn gegen die Grimmialp abdacht, ein gewaltiger, schneetaubenweißer Gemsbock.

Statt nun der Warnung der alten Leute zu gedenken und den Gemsbock in Ruhe zu lassen, sprang Rieggi auf und machte sich auf Schleichwegen an die weiße Gemse heran. Als er sie in Schußweite glaubte, zielte er gut, und sein Schuß donnerte durch alle Berge, also daß die Lauinen anließen und abfuhren, daß die ganze Bergwelt erbebte. Aber als sich der Rauch verzog, sah er, wie die weiße Gemse sich davonmachte, und er hätte doch Stein und Bein geschworen, seine Kugel sei mitten in ihren Kopf geflogen, denn auf diese Entfernung war ihm noch jede Gemse gefallen. Obschon ihm das absonderlich und unheimlich vorkam, ließ er sich doch nicht warnen. Unermüdlich verfolgte er die Spuren der weißen Gemse, die sich immer wieder zeigte, bis hoch über die Alpenrosen hinauf, in die entlegensten Felsenkarren, über schrecklich abhäldige Felsenbänder, die kaum noch ein einsames Edelweiß zeigten, bis an die wandgähen Zungen des ewigen Firnschnees hinauf. Noch nie hatte sich Rieggi also verstiegen. Die Jagdleidenschaft machte ihn völlig blind, und auf einmal stand er auf einem Felsband, um das der Berg wandgäh in die grause Tiefe hing, aus der die düstern Gletscher heraufdämmerten. Was er auch versuchte, er kam nicht mehr vorwärts noch rückwärts. Mit knapper Not vermochte er sich an die Felsenwand anzulehnen. Die weiße Gemse aber war spurlos verschwunden. Jetzt erkannte Rieggi die entsetzliche Gefahr, in die er sich verstiegen hatte. Aber er mochte sich umschauen, wie er wollte, nirgends tat sich ein rettender Pfad auf, und wie er auch jauchzte und stundenlang nach Hilfe rief, es kam ihm keine Antwort. Nur das Echo trug ihm kalt und herzlos seine eigene Stimme zurück.

Nach und nach erlahmte er. Er war abgehetzt und todmüde. Seine Beine zitterten und fanden keinen festen Halt mehr; seine Hände hatten nicht Griff genug und fielen ab. Nur noch mit dem Rücken krampfte er sich verzweifelt an die Felswand. Und auf einmal war ihm, die Bergspitzen fangen zu laufen an, immer schneller, immer schneller, und jetzt ertönte eine Stimme über ihm: "Rieggi, Rieggi! Warum verfolgst du meine Geißen, die mich mit Milch und Käse versorgen? Rieggi, Rieggi, nimm den Hut vor deinen Kopf, damit du nicht siehst, wie tief du fallen mußt!"

Jetzt hauchte es den Gemsjäger kalt an; es ward ihm dunkel vor den Augen, weitaus breitete er die Arme und fiel lautlos in die grausige Tiefe, in den sichern Tod.

Seither nennen die Älpler jene ungangbare Stelle, wohin sich der verwegene Gemsjäger einst verstieg, Rieggis Pfad.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.