Der Wiegengeist

Einst gehörte die ganze Jessenen einem einzigen Besitzer. Es war das schönste Heimwesen in ganz Yberg im Kanton Schwyz und soll bis zuoberst auf die Guggernfluh hinauf gereicht haben. Auf der Guggernfluh aber, die wandgäh ins Tal abfällt, ist's ungeheurig. Dort gab es einen Geist, der den Leuten oft Hilfe leistete. Eines Nachmittags, ausgangs Heumonat, hatte der Bauer in der Jessenen viel liegend Heu gegen das Holz auf der Guggernfluh. Auf einmal fing es wie aus heiterem Himmel zu donnern an, und es dauerte nicht lange, so stiegen schwere Wolken über den Neiselerstock auf. Jetzt mußte alles ausrücken, was im Hause war, außer der Katze, die im Ofenwinkel spann, und der Frau, die Zwillinge in der Wiege hatte.

Auf Tod und Leben wehrten sich die Leute aus der Jessenen, und die Frau, die sich vor dem Gewitter fürchtete, da sie allein zu Hause war, eilte vors Haus, riß die Axt aus dem Scheitstrunk und steckte sie, mit dem scharfen Teil nach oben, in den Rasen, um den Wetterhexen einen Strich durch die Rechnung zu machen, wenn sie's aufs Haus abgesehen hätten. Als sie danach ruhig bei ihren Zwillingen an der Wiege saß und sie schaukelte, kam's auf einmal brandkohlenschwarz aus dem Tobel herauf, und ohne Aufhören blitzte und donnerte es, als sollte die Welt untergehen. Jetzt trampte jemand vor dem Haus über die Steinplatten und das Stiegenbrücklein hinauf, und eine Stimme rief, sie solle rasch auf die Guggernfluh laufen und heuen helfen.

Wie sie aber den Kopf durchs Fenster streckte, um nachzuschauen, wer ihr gerufen habe, sah sie niemand mehr. Doch besann sie sich nicht lange, denn ihr Mann hatte sie beizeiten ans Gehorchen gewöhnt. Sie schloß das Fenster und wollte sich aus dem Haus machen. Da erwachten die zwei Kindlein in der Wiege und fingen erbärmlich zu schreien an. Und obwohl sie sich alle erdenkliche Mühe gab, sie zu trösten, wollten die Zwillinge doch keine Ruhe geben und schrien immer mehr. Schon gedachte sie wieder zu bleiben, da hörte sie ihren Namen ein zweitesmal vom Berg herunterrufen. Nun empfahl sie ihre Zwillinge dem Schutze Gottes, rückte sie vom Fenster ab in den Ofenwinkel und machte sich dann über Kopf und Hals aus dem Hause bergan. Eben hörte sie ihren Namen zum dritten Male rufen; als sie jedoch ob sich schaute, sah sie niemand.

Bald langte sie oben unter ihren Leuten an, und ohne viel Worte zu machen, werkte sie mit dem Rechen, den sie mitgenommen hatte, auf Tod und Leben drauflos. Fleißig trugen der starke Bauer, seine Söhne und Knechte die Heubürden auf einen nahen Stadel, und bald war das Heu fast alles unter Dach. Da hörte die Frau mit einem Male vom nahen Wald her ein unaufhörliches Schreien. Es war ihr gerade, als hörte sie ihre Kinder schreien. Erst beachtete sie's nicht besonders. Als es aber nicht aufhören wollte, warf sie den Rechen weg und eilte hurtig dem nahen Holz zu. Wie sie gegen die fürchterliche Fluh kam, dort, wo sie turm- und turmhoch ins Tal der stillen Wag abfällt, erblickte sie zu ihrer Verwunderung auf einem schönen, topfebenen Rasenplätzchen ein kleines, buckliges Weiblein, das auf einem Stein kauerte und in den über und über behaarten Armen etwas wiegte. Und nun erkannte sie zu ihrem Schrecken die zwei eigenen Kindlein. "Jesus Maria!" schrie sie auf und wollte auf das Buckelweiblein losstürzen. Aber da war das weg, und nur eine Nachteule humpelte mit hängenden
Flügeln hart vor ihr in das Gebüsch. Und jetzt brach ein Unwetter los wie noch nie seit Menschengedenken.

Eine Weile war die Frau wie vom Verstand. Sie meinte, es sei nicht richtig mit ihr, die Hitze hätte sie übernommen. Sie eilte in die Matte zurück, und da sie sah, daß all die Heuer schon abgezogen waren, machte sie sich schnell nach Hause.

Als sie aber in tausend Ängsten um ihre Kinder ins Haus hinaufrumpelte und in die Stube fuhr, saßen ihr alter Vater, ihr Mann und sein Volk um den Tisch und warteten aufs Vesperbrot. Doch sie sah nicht nach ihnen und hastete in den Ofenwinkel, wo sie zu ihrer Freude die beiden Kindlein wohl und gesund in der Wiege liegen sah. Als sie genauer hinschaute, sah sie zu ihrem Erstaunen, daß ein jedes ein wohlriechendes Frauenschühlein, wie die schöne Blume benamst wird, im Händlein hatte. Jetzt wußte sie, daß ihr der gute Geist auf der Guggernfluh die Kindlein gewiegt hatte, und hätte sie's so nicht geglaubt, so wäre es ihr durch ihren Mann und sein Heuervolk klargeworden, denn sie alle sagten, sie hätten nie nach ihr gerufen.

Voll Dankbarkeit trug die Frau danach, als das böse Wetter vorüber war, die zwei Frauenschühleinblumen ins Yberger Kirchlein hinauf, wo sie selbe auf den Altar legte. Der Wohlgeruch der Blumen soll darin noch monatelang zu merken gewesen sein.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.