Die seltsamen Pferde
1. Das Nachtpferd Zawudschawu

In alten Zeiten gab es mancherlei Ungeheuer zu Berg und Tal. So sah man in der Walliser Stadt Sitten oft ein dreibeiniges Roß in mondheller Nacht durch die Gassen sprengen. Und auf den sumpfigen Mooren im Greyerzerlande, im üchtländischen Freiburg, weidete nachts das wilde Pferd Zawudschawu. Es war schwarz wie Ebenholz, nur die verwilderte Mähne und der lange Schweif waren schneeweiß. Oft, wenn gebrechliche Greise, die nicht mehr gut zu gehen vermochten, den Weg über die Moore von Buriander nahmen, sprengte es in stolzem Lauf zu ihnen und ließ sich auf die Vorderbeine nieder, sie zum Aufsitzen einladend.

Kaum saßen sie oben, so trug es sie schnell nach Hause. Aber nicht immer war es so artig und zutraulich. Oft spielte es den Leuten argen Schabernack. Eines Abends ging ein Mann, der etwas über den Durst getrunken hatte, von Greyerz [Gruyères] her nach Hause. Er war müde, und zudem wollten ihm die schwanken Beine nicht recht gehorchen. Verdrossen setzte er sich auf einen großen Stein bei der Felsenbrücke und lallte: "Käme doch nur mein Gaul daher, den ich so dumm zu Hause am Barren habe!" Kaum hatte er's gesagt, so hörte er traben, und unversehens kam in tänzelnder Gangart ein schwarzes Roß auf den Betrunkenen zu. Als es bei ihm stand, ließ es sich auf die Vorderbeine nieder und nickte mit dem Kopf gar wunderlich, als wollte es den Mann zum Aufsitzen einladen. Der dachte nicht lange darüber nach, wem das schöne Pferd wohl gehören möchte, er stieg auf, so schnell es sich bei seiner Betrunkenheit tun ließ. Und wie er oben war, erhob sich das Pferd und trug ihn sänftiglich davon. Er aber versprach ihm ein gutes Futter und Zuckerbrötchen, wenn es ihn gut und bald nach Hause bringe.

Schon sah der betrunkene Mann das heimatliche Dach im Vollmondscheine winken, da tat das Pferd auf einmal einen Seitensprung, also daß der Reiter fast von seinem Rücken flog, und dann begann es zu seinem Schrecken einen wilden Galopp, daß die weiße Mähne, an der er sich nun in tausend Ängsten festkrampfte, flatterte wie die Wäsche im Wind. Er beschwor das Pferd, es möchte doch ja den rechten Weg wieder betreten, doch es stürmte fort durch das weite Moor, und unaufhaltsam ging's dem nahen Fluß, der Saane, zu.

Jetzt ergriff den Reiter eine wahre Todesangst. Er schrie auf und versuchte das wilde Roß aus dem Moore herauszulenken, indem er's verzweifelt an der weißen Mähne riß. Aber es schlug aus, so daß er sich kaum festzuhalten vermochte. Und jetzt tauchte der Fluß vor seinen entsetzten Augen auf, das Roß stürmte drauf los. Doch hart an seinem Rande drehte es sich blitzgeschwind, also daß der Reiter wie ein Ball in die kühle Flut hinausgeschleudert wurde. Das Pferd aber wieherte auf, als ob es auflachte, stob über das Moor dem Brockberg zu und verschwand.

Mit Not und Ach und Krach vermochte sich der angeführte Reiter aus dem Fluß zu retten. Und als er nun, triefend wie ein Wald nach dem Donnerwetter, ans Ufer gekrochen war, wußte er, daß er in seinem Rausch das wilde Pferd Zawudschawu geritten hatte. Das kalte, unerwünschte Flußbad aber hatte ihn gehörig ernüchtert. Schleunigst und zum Auswinden naß, machte er sich nach Hause. Da, wo ihn das wilde Pferd in die Saane warf, steht jetzt eine Feldkapelle.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.