Die Rose von Mariastein

Eine weihnachtliche Legende

In der Bodensenkung zwischen dem Annafeld in Mariastein und dem Landskronhügel – heute heisst dieser Weiler mit den paar Häusern Tannwald, der bereits zur elsässischen Gemeinde Leymen gehört – stand früher einmal ein einfaches, schlichtes Holzkreuz. Am Fuss dieses Kreuzes wuchs ein bescheidener, von vielen gar nicht beachteter Rosenstrauch. Er soll von dem Rosenstrauch abstammen, an dem Maria, die Muttergottes, auf der Flucht nach Ägypten die Windeln des Jesuskindes zum Trocknen aufgehängt hatte. Wie dieser Rosenstock allerdings dorthin gekommen ist, bleibt ein Geheimnis, das niemand kennt.

Dieses Rosenbäumchen hatte eine einzige Knospe. Diese aber sei niemals verwelkt und auch nie verdorrt. Die Knospe blieb das ganze Jahr hindurch immer fest verschlossen, auch wenn die warmen Frühlingslüfte andere Rosen aufquellen liessen oder die Sonnenstrahlen im Sommer die Rosen zum Blühen brachten. Die Knospe blieb so bis gegen Ende des Jahres. In der dunkelsten Zeit des Jahres aber, kurz vor dem heiligen Christfest, wenn alles ringsum in Kälte erstarrte und Schnee gefallen war, da fing die Knospe langsam an, sich zu entfalten. In der Heiligen Nacht, wenn in Mariastein drüben die Kirchenfenster vom Licht vieler Kerzen erleuchtet waren und die Glocken das Wunder der Christnacht über das weite St. Annafeld hinweg in die dunkle Nacht hinaus kündeten, in dieser Stunde also, in der Millionen Herzen von Christen von der Hoffnung und Sehnsucht nach Erlösung ergriffen wurden, da entfaltete sich die Knospe in ihrer ganzen Pracht. Und wie sie sich dann ganz geöffnet hatte, ging von ihr ein heller Schein aus, und zugleich strömte ein wunderbarer Duft von ihr aus. Ein Rauschen und ein Leben durchzog plötzlich die erstarrte Winternatur. Vor lauter Staunen sollen sogar die dunklen Tannen ihre Wipfel herabgesenkt haben, gerade so, als wollten sie nachschauen, was denn da Wundervolles geschehe. Sogar das Moos am Fusse des Kreuzes fing an, sich zu bewegen. Und die Tiere ringsum kamen und staunten über das, was sich hier ereignete. In dem Augenblick aber, als drüben in Mariastein während der Christmette die Wandlungsglocke das Wunder der heiligen Gegenwart des Erlösers verkündete, da entfaltete sich die Rose in ihrer grössten Pracht voll Duft und Helligkeit.

In die weite Umgebung ergoss sich das glänzende und geheimnisvolle Licht dieser Rose und breitete sich wie ein silberner Schimmer über die Felder und Wiesen und begründete so den Segen und die Fruchtbarkeit für das kommende Jahr.

Nicht jedem Menschenkind aber ist es gegeben, das Wunder der Rose von Mariastein zu erleben. Wem es aber einmal vergönnt ist, dem sind Glück und Segen für alle Zeiten geschenkt.

Quelle: Legende zum Wallfahrtsort Mariastein, Elsässer Sagen- und Legendenbuch, erz. v. Maurice Higelin, 1930 H. Ludwig