301. Das Alpmutterli

ist der Gegenstand eines ausgedehnten Sagenkreises. Die Gestalt hat einen neckischen, schadenfrohen Charakter. Es gibt jetzt noch Alpler, die behaupten, das Alpmutterli gesehen zu haben.

Meine Urgroßmutter ging als Kind in Begleitung eines andern Mädchens mit einem "Tusli" voll Nidel von der hochgelegenen Geißwiese heim. Im Badeura sahen sie eine wilde Henne mit Hühnlein und wollten sie fangen. Plötzlich glitschte das eine Mädchen aus und verschüttete den Nidel. Das andere hörte hinter sich ein leises Lachen, und als es sich umkehrte, sah es ein Weiblein sein Schößlein "fleugen" (schwenken). Das war das Alpmutterli.

Zwei Bauern Mitteten im Mittenwald Holz. An einer geneigten Stelle ging es dem vordem auf einmal ganz schwer. Sein Kamerad rief: "Es sitzt ein Weiblein auf deinem Schlitten." Als der erste rückwärtsschaute, sah er schon nichts mehr. Der andere aber hatte das Weiblein sofort wegspringen und im Wald verschwinden sehen. Sie suchten seine Fußtritte im weichen Schnee, fanden aber nichts.

Wenn das Alpmutterli in eine Hütte einkehrt und man ihm Milch vorsetzt, ißt es dieselbe mit umgekehrtem Löffel.
J. B. Stoop

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Das Alpmutterli erschien auch einmal in der Hütte eines Hirten, welcher der Angekommenen Milch und Brot vorsetzte; aber sie ass nichts davon, weil sie vorgab, sie hätte keine Zeit dazu, da sie am gleichen Tage noch auf verschiedene Gebirgsrücken wandern müsse. Zum Danke wurden dem freundlichen Hirten zwei Erdbeeren angeboten ; dieser nahm sie aber aus Furcht nicht an.
Ferd. Stoop

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Man erschrickt, wenn es sich zeigt; denn es bringt immer schlechtes Wetter. Doch weisen es die Sennen nicht ab, um möglichst gut über die entstehenden Verlegenheiten wegzukommen. Sie dürfen ihm auch die erwünschte Gastfreundschaft erzeigen; denn ein Alpmutterli kann Milch trinken, ohne daß diese sich mindert; es kann auch von allen Speisen genießen, ohne den Wirt zu schädigen.
Auf der Flumser Alp will man das Weiblein im Sommer 1799 zum ersten Mal gesehen haben. Da wurde der Herbst ganz ungünstig.

Als das sonderbare Wesen wieder einmal kam, wies der unfreundliche Senn es barsch weg. In der Nacht aber kam ein so starkes "Bischen" (Schneegestöber, Schneesturm), daß man gleich am Morgen die Alp verlassen mußte.
A. Sprenger

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 301, S. 167f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, August 2005.