221. Das Bergwerk auf dem Knappertopf

Die Goldadern am Knapperkopf wurden von zwei Brüdern entdeckt und im Geheimen ausgebeutet.

Die Habsucht brachte Unglück über sie.

An einem Abende, an dem große Beute gemacht worden war, stürzte der eine den andern die hohe Felswand hinunter, begab sich mit seinen, Schatze nach Hause, verbarg ihn und teilte den Leuten mit, sein Bruder sei zu Tode gestürzt. Schnell begab sich eine Menge junger Männer auf die Suche und fand den Mann noch lebend. Dieser verriet das Geheimnis der Goldader, gab seinen Bruder als Mörder an, und dann verschied er.

Auf dem Anhau bei Ragaz wurde der Brudermörder hingerichtet; aber an der Stelle, wo der Frevel geschehen war, mußte der Mörder als feuriger Mann umgehen.

Hierauf ging die Ausbeutung der Gruben an die Gemeinde über; alle waren sehr ergibig, besonders die mit einer eisernen Türe versehene Hauptgrube. Ein zweistöckiger Holzbau erhob sich an der Stelle, wo jetzt die halbzerfallene Knapperhütte sich befindet, die zur Wohnung für die Bergleute und zur Aufnahme des Erzes dienen mußte. Jahre waren vergangen; aber der Unhold belästigte die Knappen immer mehr, selbst in der Hütte, wenn nicht allabendlich gebetet wurde. Auch Berggeister spielten den Leuten manchen Schabernack. Das eine Mal waren die frischgespitzten Bohrer bis über die Hälfte in den Felsen hineingetrieben; ein anderes Mal war sämtliches Werkzeug an dem wohl 300 Meter tiefer liegenden Taminaufer zu finden, oder es kam den Knappen, wenn sie in einer ergibigen Erzader bohrten, plötzlich ein Strom Wasser entgegen.

An einem Abende, als die Bergleute das übliche Gebet verrichtet hatten, kam durch die Stubentüre ein kaum ellenlanges Weiblein herein. Das rußige Berglämpchen erlosch. "Ich bin euere Freundin, die Elfenkönigin, und gebiete über hundert dienstbare Geister. Zweihundert Jahre sind es heute, seit hier ein Brudermord geschah. Der Mörder hat nun seine Schuld gebüßt und wird euch nicht mehr belästigen. Letzthin haben meine hundert Zwerge den Kampf auch mit den Kobolden und Berggeistern aufgenommen und sie besiegt. Diese werden euch nichts mehr schaden. Ein Stunde nur, um Mitternacht, laßt die Arbeit ruhn; denn sie würde euch Unglück bringen!"

Verschwunden war die liebliche Gestalt. Das Lämpchen brannte wieder.

Da lebte in Vättis ein armes, aber glückliches Elternpaar. Ihr ganzer Schatz war ihr einziges Kind, Namens Marie.

Es kam die Zeit, daß auf der Burg Freudenberg die Mariengerichte abgehalten wurden. Der Vater hatte Geschäfte in Ragaz, und das Töchterlein durfte ihn dorthin begleiten. Die beiden begaben sich auch auf den Freudenberg. Auf einmal entstand eine Bewegung unter den Anwesenden; ein Trupp Zigeuner war angekommen. Alles sprang so schnell als möglich, die armen Leute niederzuschlagen; denn die Zigeuner waren damals vogelfreie Leute, und die Abschlachtung derselben hielt man für ein Gott wohlgefälliges Werk. Auch die beiden Vättner folgten der Menge. Auf einmal sahen sie ein altes Zigeunerweib mit blutigem Kopfe, Ein Rasender hatte es mit einem Stocke niedergeschlagen. Die Alte wurde von dem Volkshaufen nicht mehr beachtet und hatte sich in das Gebüsch geschleppt, um dort ruhig sterben zu können.

Jetzt erhob der Bergmann den Stock, um ihr den Todesstreich zu versetzen. Das Mädchen bat für sie und fand Erhörung. Die Zigeunerin aber richtete sich auf und sprach: "Gutes Mädchen! Wenn du einmal groß sein wirst, droht dir ein furchtbares Unglück; du kannst es abwenden, wenn du meinen Rat befolgst. Wenn deine Familie fünf Personen zählt und der Johannestag auf einen Tag fällt, der kein Tag ist (Mittwoch), haben dreizehn Männer etwas vor. Verhindere es; denn du rettest dann dein Liebstes vor einem schrecklichen Tode."

Die Zigeunerin starb; Marie aber wuchs auf und wurde die Frau des Vorarbeiters im Bergwerk am Knapperkopf.

Zwei liebliche Mädchen wuchsen dem jungen Ehepaar auf, dazu ein Knabe.

Einmal gegen Ende Juni hatten dreizehn junge Männer im Übermute beschlossen, mit dem althergebrachten Glauben zu brechen und am St. Johanni-Tage ihre Nachtarbeit um zwölf Uhr zu beginnen. Das Vorhaben derselben wurde in Vättis bekannt. Auch Marie hörte davon, als sie im Görbsbach Wasser schöpfte. Vor sich sah sie plötzlich die alte Zigeunerfrau mit bluttriefendem Kopfe. Alles schlug heute nach der Prophezeiung genau ein. Ihr wurde schwindelig; sie mußte nach Hause getragen werden und verfiel in ein hitziges Fieber. Der Pfarrherr wurde gerufen. Auf einmal wurde ihr Geist hell, und sie konnte offenbaren, was für die nächste Stunde bevorstund. Anton machte sich unverzüglich auf den Weg nach dem Knapperkopf, um seine Genossen zu warnen. Er glaubte, den Knapperkopf auch in tiefer, rabenschwarzer Nacht noch rechtzeitig erreichen zu können. Mitten im Wege lagen aber Tannen und Felsblöcke. Doch er verzagte nicht; er überwand alle Hindernisse bis nahe ans Ziel, wo seine Kräfte schwanden. Er wollte eine Weile ausruhen. Doch er hörte hinter sich rufen: "Beeile dich; es ist die größte Zeit!" Bald hatte er die Hütte erreicht uud betrat dieselbe. Die zwölf Gesellen aber waren schon fort. Schon trat auch das Gefürchtete ein. Der jähe Bergabhang mit Felsen, Wald, Rasen und Geröll setzte sich in Bewegung und bedeckte vor den Augen des Zuschauers die Gruben samt den Knappen.

Es wurde nachgegraben; aber die Verschütteten wurden nicht mehr gefunden. Das Begrabensein in ungeweihter Erde war die gerechte Strafe für den Vorwitz.

Wie sehr diese Sage in Vättis fortlebt, beweist die Tatsache, daß Ende der 1860er Jahre, als der Betrieb des Bergwerkes neuerdings aufgenommen wurde, man an vielen, vielen Orten die Erde wegschaffte und nach den verschütteten Gruben suchte.
Ludwig Jäger.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 221, S. 107ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.