351. Die Mahnung

In dem untern Teile der Alp Malun breitet sich der schöne Dreierwald aus. Dieser wird nicht selten, namentlich gegen die Zeit hin, wo man anfängt, von Alpentladung zu sprechen, von einem unheimlichen, schrillen Pfeifen durchtobt, aber nur nachts. Dies bringt immer bös Wetter. Eines Abends, die „Vonalpfahrt" sollte in nächster Zeit stattfinden, wurde das Gepfeife wieder und zwar in ganz scharfer Weise wahrgenommen. Das Vieh wurde unruhig, und der Senn sagte: „Es wäre gut, wenn es daheim in den warmen Ställen seine Ruhe fände." Aber es war da weiter nichts zn machen, und Senn und Knechte begaben sich zur Ruhe.

In der gleichen Nacht, kurz nach Mitternacht, weckte der Nachtwächter im tief unten liegenden Bärschis die Bauern. Bald streckten diese die Köpfe zu den Fenstern heraus, und auf ihr Fragen: „Was gibt's?" antwortete jener: „Ich höre unser bekanntes Kuhglocken-geläute weit droben auf Hinterschindeln und fürchte, unser Vieh ist ausgebrochen aus der Alp und befindet sich auf dem Heimweg," Die Bauern spitzten die Ohren und vernahmen gleichfalls das Schellengekling. Bald ging es aufwärts gegen die Alp hin. Bei „Zerfinen-platte" auf Schuhegg angelangt, ließ sich das Geschelle und Gemuhe schon vom Roßmen und Gafortsch her in ohrenzerreißendem Konzert vernehmen. Auf Forkels trafen Vieh und Eigner zusammen, und nun ging's bei strömendem, kaltem Regen dem Dorfe zu. Anderntags trafen der Senn und die Knechte mit den Kuhketten und andern Gerätschaften ebenfalls ein. Solches veranlagte der Dreierwald mit seinem nächtlichen Pfeifen.
O. Giger.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 351, S. 197f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, November 2005.