243. Die Erlösung einer Hexe durch ihren Taufpaten.

Hexen konnten sich erlösen, wenn sie unter eine Brücke standen, sobald ein Täufling über diese getragen wurde. Aus dem Kinde wurde nach 14 Jahren entweder eine Hexe oder ein Hexenmeister; sie selber war erlöst, mußte aber noch mit dem Teufel auf dem letztbesuchten Tanzboden eine Zusammenkunft halten.
Einer ehrsamen Jungfrau von Vättis war von einem alten Weibe die Hexe "angeworfen" worden.

Niemand wußte dieses. Sie wurde gebeten, Patin zu sein. Mit Freuden sagte sie zu; denn sie wußte, daß sie gerettet werden konnte, wenn der Täufling sechs Jahre alt war und er ihr 14 Minuten, zu Ehren der 14 Nothelfer, unbedingten Gehorsam leiste.

Sie trat bei den Klostermönchen als Köchin ein und versah diese Stelle im Hof Ragaz. Hier war sie vor den Nachstellungen des Teufels sicher.

Als der Knabe herauwuchs, wandelte er oft nach Ragaz hinaus, um Mehl und dergleichen zu holen. Jedesmal kehrte er bei seiner Patin ein, die immer einen guten Bissen für ihn bereit hatte. Nachher begleitete sie ihn eine kleine Strecke, und beim Abschiede sagte sie dann: "Gelt, Götti, wenn ich dich einmal etwas heiße, so tust du es mir zuliebe, nicht wahr?" "Ja, ja", antwortete er.

Als der Knabe sechs Jahre alt geworden, sagte sie zu ihm: "Ich werde dich, bevor du auf dem Vättnerberge bist, einholen." Als er auf dem "Küherbödeli" (in der Alp Findels) rastete, sah er seine "Gotta" drei Viertelstunden unter sich über das sogenannte "Ruchbödeli" heraufkommen. In einer kurzen Zeit war sie bei ihn. Sie sagte: "Wenn du nicht Wort hältst, geschieht ein großes Unglück; mich und dich betrifft es. Du mußt tun, was ich dir sage."

Dann stellte sie ihn auf einen ebenen Platz am Wege, zog drei Kreise um ihn und begann wieder: "Ich bin verwünscht und kann nicht selig werden ohne deine Hilfe, Du mußt 14 Minuten in diesen Kreisen stehen. Nach dieser Zeit wirst du eine weiße Taube über dich hin dem Vättnerberge zufliegen sehen. Das bin ich. Verlaß aber während dieser Zeit die Ringe nicht, was auch kommen mag. Wehre dich mit deinem Stocke. Es werden wilde Tiere jeglicher Art gegen dich heranstürzen; aber keines wird die Kreise überschreiten. Es werden die Vättnerberger kommen und dich aus den Kreisen herauslocken wollen; folge ihnen nicht! Endlich werden deine Eltern erscheinen und dich bitten, mit ihnen zu kommen; gehorche ihnen nicht, was sie auch sagen mögen; es wäre zu unserm Schaden. Jetzt harre aus!" Die Patin verschwand. Ein Rabe flog in nächster Nähe auf.

Da gab es Leben im nahen Gehölze. Mit fletschenden Zähnen sprangen wilde Tiere aller Art auf den Knaben los; doch er wehrte sich mit seinem Stocke. Bis an den äußersten Ring kamen sie heran, kehrten aber knurrend wieder zurück. Einen Augenblick blieb alles still. Dann kamen die Vättnerberger daher mit ihren Bündeln; sie erklärten, sämtliche Gebäude seien verbrannt. Man habe beschlossen, auszuziehen; seine Eltern warten auf ihn eine kleine Strecke weiter oben. Er weigerte sich, ihnen Folge zu leisten.
Mühsam und schwerbeladen kamen in kurzer Zeit auch die Seinen und baten ihn, Hilfe zu leisten. Allein er blieb seinem Versprechen treu. Jetzt flog die Taube vorbei, und damit war das Werk vollbracht.
L. Jäger.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 243, S. 120ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.