244. Die Erlösung von den Giftschlangen.

Ein aus Osterreich geflohener Jude kam mit seinen fünf Kindern zu dem Riesengeschlechte nach Kalkeisen und bat um Schutz. Eine sofort einberufene Gemeindeversammlung wies den Flüchtlingen außerhalb des Kirchleins einen Wohnsitz an. Dieser wird heute noch "Judenhüttle" genannt.

Bald hernach aber zeigten sich die giftigen Kreuzottern in solcher Masse, daß das Tal förmlich davon wimmelte. Selbst in die Wohnungen, ja sogar in die Schlafstätten folgten sie den Bewohnern.

An einer Gemeindeversammlung auf dem Rathausboden wurde beschlossen, man wolle auswandern.

Da trat das fremde Männlein vor und sprach: "Ich werde euch meinen schuldigen Dank dadurch zeigen, daß ich euch von der Plage erlöse. Es kann mein Leben kosten; aber ich hoffe, ihr werdet nach meinem Tode für meine Kinder sorgen." Diesem Begehren wurde mit Einmut entsprochen. Nun fragte das Männlein, ob eine weiße Schlange mit einer Krone auf dem Kopfe gesehen worden sei; das wurde allseitig verneint.

Daraufhin machte der Jude ein großes Feuer an, hieß sämtliche Anwesende hinter seinen Rücken stehen, warf verschiedene unbekannte Dinge in das Feuer, murmelte unverständliche Beschwörungen vor sich hin und harrte mit Gleichmut der Dinge, die da kommen sollten. War wirklich keine weiße Schlange da, so war das Schlangenreich der Königin beraubt und damit jede Gefahr ausgeschlossen.

Von allen Seiten schössen sie herbei, die furchtbaren Würmer, zu Hunderten und zu Tausenden, und stürzten sich unter grauenerregendem Zischen und Pfeifen in das Feuer. Nach einer kleinen halben Stunde waren die Plagegeister des Tales nur mehr ein Häufchen Asche.

Schon atmeten die Talbewohner erleichtert auf, als ein Seufzen des Männleins alle neu erbeben machte. In der Ferne vernahm man ein furchtbares zischen. Von den Felsen der Kratzere schoß pfeilschnell ein weißes Band dem Feuer zu. Wie glitzerte auf dem Haupte der Königin der Schlangen die goldene Krone! Beim Feuer angekommen, stutzte das so schöne und doch so grauenvolle Tier einen Augenblick, bäumte sich in die Höhe, stürzte sich auf den Zauberer, versetzte ihm einen tödlichen Biß in das Herz und fiel dann gleich den Schwestern dem Feuer zum Opfer.

Der Wackere fiel rücklings zu Boden und war eine Leiche. Knieend, mit zum Himmel gehobenen Händen dankten die Anwesenden dem Herrn.

Die Asche wurde weggeräumt und nach der wundervollen Krone gesucht; diese war geschmolzen. Aus ihr waren kleine, eckige Goldkörner entstanden, das Schwefelkies.
L. Jäger.

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Es ist nicht zufällig, daß diese uralte Sage den Zauber von einem Juden ausgehen läßt; die Juden waren als böse Zauberer verschrieen. Mußte z. B. vor Gerichtsschranken der Zweikampf entscheiden, der als Gottesurteil beliebt war, so durften keine Priester, Weiber und Juden zugegen sein, damit nicht der Segen des Priesters, der Schrei des Mitleids aus dem Munde des Weibes und der Zauber des Juden auf den Kampf Einfluß gewinne.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 244, S. 122f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.