320. Der gefangene Schrättlig

Ein Bauer hatte im Maiensäß das Vieh gefüttert und legte sich nun auf die "Tril", um zu schlafen. Da kam durch die geschlossene Türe eine schwarze Katze als Schrättlig geschlichen. Er verhielt sich aber ganz ruhig, indem er hoffte, sie fangen zu können. Leise schlich das Tier zu seiner Lagerstätte und wollte eben sein Gesicht beriechen, als er auffuhr, um es am Hals zu fassen. Die Katze aber war flinker als er; sie ließ sich nicht fangen und arbeitete mit Zähnen und Krallen, sich des Angreifers zu erwehren. Endlich gelang es ihm, das Messer zu ziehen. Indem er mit der linken Hand die Katze am Genick faßte, wollte er ihr mit der rechten einen tödlichen Stich beibringen, als sie zu reden begann und in rührenden Ausdrücken um ihr Leben flehte. „ Groß wird die Rache meiner Brüder sein, wenn du mich tötest," sagte sie zuletzt, "und Ungück auf Unglück wird deinen bösen Sinn ändern."

Der Bauer konnte dem Bitten nicht widerstehen und ließ sie laufen. Sie wurde nicht wieder gesehen.
A. Sprenger

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 320, S. 179
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, September 2005.