360. Auf dem St. Georgenberg

Fahrende Schüler haben durch den Bergspiegel in die Felswand hineingeschaut und da, wie an der höher gelegenen Steienwand und im Goldloch der nahen Alp Sennis, unermeßliche Schätze von Gold und Silber entdeckt. Den Venedigern verwandelten sich die Steine dieser Gegend in Gold, und aus ihr sollen sie sich alle ihre Reichtümer geholt haben. An der glatten, gewöhnlichen Menschen unzugänglichen Felswand mitten unter den Kapellen befindet sich eine Türe, die ins Innere des Berges zu den Schätzen führt. Diese öffnet sich zuzeiten am hellen Tag. Geistliche Herren treten aus ihr hervor, steigen, man begreift nicht wie, an der Felswand empor zum Gipfel und sonnen da zwischen den Kapellen ihre Messgewänder und allerlei kostbare Geräte. Während dieser Zeit getraute sich niemand, die Höhe zu besteigen. Haben sie ihre Schätze lange genug gesonnt, so kehren sie zurück, verschwinden im Berge, und die Türe schließt sich wieder. In der Nacht aber gehen auf der Höhe noch viel unheimlichere Dinge vor. Oft, wenn in Flums oder Bärschis die Glocken die Mitternachtstunde geschlagen haben und das Tal im tiefsten Dunkel liegt, wird es da oben plötzlich hell, und man sieht schwarze Gestalten zwischen den zwei Kapellen Kegel schieben. Mit zwei goldenen Kugeln werfen sie unermüdlich nach silbernen Kegeln, und deutlich hört man unten das dumpfe Rollen der Kugeln, das Fallen der getroffenen Kegel und die verworrenen Männerstimmen, bis Schlag ein Uhr plötzlich alles verstummt und verschwindet. Von den schwarzen Gestalten tragen einige eine weiße Kopfbedeckung; bei den meisten aber ist nichts Weißes mehr zu sehen. Jene sind noch erlösbar, diese nicht.
O. Giger.

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Wodan, der Gott der Winde, ist auch der Gott des bewegten nächtlichen Spiels. An seine Stelle trat in der christlichen Zeit vielfach der hl. Georg, der Patron der Ritter und reichen Herren. Wirklich ist das sehenswerte alte Wallfahrtskirchlein dem hl. Georg gewidmet, und das lärmende Gefolge des einstigen Heidengottes wurde zu einem Heer unruhiger Geister, die mit ihrem Spuk noch die Gegenden erfüllen, an denen ihr Herr und Gebieter einst am eifrigsten verehrt ward. Der St. Georgsberg ist ohne Zweifel eine uralte Kulturstätte; er war ein natürlicher Opferaltar für die heidnischen Festgelage; auf ihm stand auch ein römisches Kastell, dann im Mittelalter ein kleines Beguinenkloster, was alles der Volksmund in seinen Sagen bis auf unsere Zeit festgehalten hat.
Nach Dr. E. Buss

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 360, S. 201f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, November 2005.