270. Der Landvogt im Güllenfass

Ein Bauersmann begegnete einst um die Mitternachtsstunde in der Nähe der Heiligkreuzkapelle einem großen Wagen, der mit einem Güllenfasse beladen war und den mehrere düstere Männer mit äußerster Anstrengung zu ziehen sich bemühten. Als sie den Bauer bemerkten, baten sie ihn dringend, den Wagen eine Strecke weit ziehen zu helfen, und er entsprach ihrem Begehren. Nachher befragten sie ihn um ihre Schuldigkeit für seine Dienstleistung und munterten ihn dazu auf, recht viel zu verlangen. Als er dann aber durchaus nichts forderte, rief eine klägliche Stimme aus dem Güllenfasse heraus: "O, hättest du doch großen Lohn gefordert! O weh mir! Meine Sündenschuld, die ich einst als Landvogt des Sarganserlandes auf mich geladen habe, brachte mich um die Grabesruhe; alle hundert Jahre muß ich einmal eine so schmähliche Fahrt machen, bis die geforderten Löhne derjenigen, die meinen alten Spießgesellen diesen Wagen ziehen helfen, den durch mich von den Untertanen ungerecht erpreßten Steuern und Abgaben gleich kommen; wenn es mir aber noch mehr so übel geht wie diesmal, so muß ich die Qualen der Verdammnis tragen bis zum jüngsten Tage."

Hierauf hörte der Bauer nur noch ein tiefes Stöhnen, und alles war verschwunden.
I. Natsch

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 270, S. 145f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.