275. Die Milch im Hirtenstock.

Geißler "Köbi" (Jakob) und "Seppen-Lihert" (Josephs Leonhard) hüteten auf der Langwiese miteinander die Ziegen. Der Tag war heiß und der Durst der beiden Hirten groß. Da sagte Lihert: "Wir wollen Wasser suche", damit wir nicht verschmachten müssen," Köbi lachte darüber und erwiderte: "Wasser ist mir zu dünn; ich trinke lieber Milch; stehst du, jener Kuh dort in Vermol drüben stießt die Milch aus; das ist schade; ich will sie zu Nutzen ziehen." Lihert hingegen meinte, solches könne nicht so bald geschehen, weil die Kuh mehr als eine halbe Stunde weit von ihnen entfernt sei und zudem noch das Seeztobel dazwischen liege.

Köbi aber schob das eine Ende seines Hirtenstockes in den Mund und sog dann Milch aus demselben, mehr als er zu schlucken vermochte, so daß ihm davon noch viel bei den Mundwinkeln herausfloß.

Der Eigentümer der Kuh beklagte sich bei seinen Nachbarn und Bekannten, daß ihm dieselbe oft auf der Weide heimlich gemolken werde.
I. Natsch

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Hexen und Hexenmeister können nach dem Volksglauben fremdes Vieh durch den "Geschirrlumpen" melken.

 

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 275, S. 148f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.