196. Der Lindwurm in Gamidaur
Der Küher der Alp Gamidaur hatte im Untersatz eben seine Sente gegen die Alp Vermin auf die Tagweide "im Birk" getrieben, als er unversehens vom Erdboden verschwand und in ein schauerlich tiefes Loch hinabstürzte, welches oben von Moos und dem Gesträuche der Alpenrose überwachsen war, unten aber zu einer geräumigen Höhle sich erweiterte. Vom Falle selbst hatte er wenig Schaden gelitten. Was ihm dabei am mindesten gefiel, war der Umstand, daß sich in der Höhle ein lebender Lindwurm vorfand, von dem er sogleich als ein Leckerbissen verspeist zu werden glaubte. Allein das Ungetüm war nicht so grausam als es der Küher vermutete; es blickte ihn zutraulich an, wedelte mit seinem langen Schwänze und schien erfreut darüber zu sein, einen Gesellschafter erhalten zu haben. Von daher war also für den Älpler nichts zu befürchten; dagegen mußte ihm der Gedanke, daß er vielleicht nicht mehr aus dieser Höhle hinauskommen könne, sondern in ihr verschmachten müsse, schwere Sorgen machen. Nachdem er sich an die Dämmerung der Höhle gewöhm halte, gewahrte er, daß an deren einer Seite sich ein Bächlein befinde von reinem, flüssigem Golde und daß der Drache von diesem sich ernähre.
Hunger und Durst bewogen endlich den verunglückten Küher, ebenfalls von dieser seltsamen Nahrung zu kosten, er fand sie vortrefflich, und sie bekam ihm auch wohl. Doch sehnte er sich weg, fand aber hiezu keine Möglichkeit; denn der Drache verließ diese Behausung niemals.
So lebten beide mehrere Jahre in dieser Felsenklause. Da wurde einmal die Kluft von oben geöffnet; ein Lichtstrahl des Tages drang zu den Eingekerkerten herab, und die Gestalt eines Menschen wurde draußen sichtbar.
Der Drache fing an, sich an den Felswänden der Höhle hinauf zuarbeiten, und von einem rettenden Gedanken ermuntert, umklammerte der Küher den Schwanz desselben. Oben angekommen, flüchtete er sich schnell und unbemerkt hinter einen nahen Felskopf und konnte von da aus sehen, wie ein kleines Männlein, ein Venediger, den Drachen mit einem starken Strick fesselte und trotz gewaltigen Widerstrebens an eine dicke Tanne band.
Hierauf legte sich das Männlein, von der Anstrengung ermüdet, beiseits zum Schlafen nieder. Der Drache aber blickte wehmütig, wie um Hilfe bittend, zum Küher hinüber.
Dieser erbarmte sich seiner, eilte zur Tanne und durchschnitt den Strick.
Der Drache stürzte sich sogleich wutschnaubend auf das schlafende Männchen, zerriß dasselbe in tausend Stücke, gab dann dem Küher noch seine Dankbarkeit zu erkennen und kroch hierauf wieder zurück in seine alte Behausung.
Der Küher wurde zu Hause von niemand mehr erkannt, und die gewöhnliche
Menschenkost wollte ihm nicht mehr behagen.
I. Natsch.
*
Auf der Alp Gamidaur gab es einmal ein furchtbares Hagelwetter. Die Knechte
eilten zum Vieh hinaus, konnten es aber nicht beruhigen; alle Tiere sprangen
über die Felsköpfe hinunter in den hintern Teil der Alp Precht.
Die Stelle heißt heutigentags noch "in der Sulz".
Chr. Albrecht.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 196, S. 94f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.