462. Der Michel und sein Schimmel.

Ein fruchtbares Seitentälchen gegen den Necker hin wird das Äulein genannt, wo vorzeiten der Michel wohnte. Als Knabe war er zu vielem Guten fähig und zu allem Bösen geneigt. Aber er lernte nichts und verbrachte seine Jugend mit tollen Streichen. Als er größer geworden, kaufte er sich einen Schimmel, verkaufte sein Gut und verschwendete sein Vermögen und als Vormund auch das seiner Schwester, die eine Witwe mit vier kleinen Kindern war, in kurzer Zeit. Der Schimmel erlag den Peitschenhieben, und schließlich starb Michel selbst im tiefsten Elend.

Niemand flehte an seinem Grabe: "Gott schenke ihm die ewige Ruhe." Wiewohl er auf dem Friedhof begraben wurde, erschien er jede Nacht in der Hagenau. Dort hatte Michels Schwester noch einen steinigen Acker. Wenn nun auf den Türmen Ganterschwil, Bütschwil und Lütisburg die Glocken 12 Uhr schlugen, hörte man in der Hagenau einen dumpfen Laut. Am Rande des Steinackers tat sich die Erde auf, und hervorkam der Michel, die Peitsche in der Hand, bleich und abgehärmt. Ihm folgte gleich auch der Schimmel, und dieser stürzte sich auf seinen frühern Peiniger. Voll Angst ergriff Michel die Flucht. Am Rande des Ackers sprang er auf und ab, stets von seinem Schimmel verfolgt. So durchlief er, nach jeder Umkreisung um einen Fuß der Mitte des Ackers zurückend, das ganze Feld. In einer Stunde mußte alles geschehen; dann sank der Mann schweißtriefend und zu Tode ermattet auf den Ackergrund, welcher ihn und den Schimmel mit dem ersten Glockenschlage wieder verschlang.

So wurde Michels Untreue und seine Tierquälerei furchtbar bestraft, und es erfüllte sich die Drohung seiner ihn oft warnenden Frau Anna Babeli, die ihm manchmal zurief: "Du wirst auch noch gejagt.
A. Lauchenauer.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 462, S. 276
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