292. Der Muggisturz und das wilde Mädchen.

Auf den Flumser Alpen lebten seiner Zeit wilde Menschen, welche sich nicht zu den andern Bewohnern des Landes gesellten und in stiller Zurückgezogenheit die entlegensten Wälder und Felshöhlen bewohnten. Man sah sie selten, und so oft dies geschah, suchten sie sich möglichst bald der Beobachtung des Fremdlings zu entziehen.

Ihre Kleidung war äußerst dürftig und bestand meistens nur aus Tierfellen und andern einfachen Naturstoffen.

Die Flumser hatten Mitleiden mit diesem halbnackten, aber friedfertigen Alpenvölklein.

Sie legten diesem daher öfters in seinem Reviere bessere Kleidungsstücke als Geschenk zurecht. Die Wilden holten das Dargebotene weg, sobald sie sich unbeobachtet glaubten, bekleideten sich damit und schienen Wohlgefallen daran zu haben.

Einmal, bei anhaltendem Schneewetter gelang es, ein wildes Mädchen zu fangen. Man brachte es dann nach Portels, am Kleinberg zu Flums, und versorgte es dort bei einer braven Bauernfamilie. Hier gewöhnte es sich bald an die Hausgenossen und deren Verhältnisse und bediente nach und nach, und zwar mehrere Jahre lang, die Familie wie eine verständige und treue Magd.

Über ihr Volk sagte sie nie etwas aus, nur bekannte sie, daß ihr Name Ruchrinde sei.

Während ihres Aufenthaltes in Portels kam eine pestartige Krankheit unter die Leute, welche so heftig auftrat, daß viele Familien völlig ausstarben. Nur in der Familie, bei welcher Ruchrinde wohnte, starb niemand. Die kluge Wilde erklärte, es komme dieses daher, daß sie immer nur ganz reines Wasser zum Hausgebrauche aus dem nahen Bächlein hole, in welchem, wie in den andern Bächen, zu gewissen Zeiten sich viele ungesunde Laiche (Eier von Wassertieren) vorfinden, die nicht zu Speise und Trank für Menschen verwendet werden dürfen. Aus dieser Ursache habe sie beim Wasserholen jede Schöpfkelle voll Wasser genau untersucht und das Unreine wieder zurückgeschüttet.

Einige Jahre nach dieser Pestzeit hatte sich der Berg vom Dorfe Flums her wieder ein wenig bevölkert.

An einem hellen Wintertage ging dann einer mit einem Schlitten auf den Schultern auf die Alp, um Holz zu holen. Oben angelangt, hörte er von einem Hügel her sich beständig zurufen: "Jochtrager! Jochtrager!" und erkannte in der Rufenden eine Frauensperson der Wilden.

Auf sein Befragen, was sie wolle, antwortete diese, er solle doch so gefällig sein und der Ruchrinde zu Portels berichten, der "Muggisturz" sei gestorben.

Der Angeredete versprach, ihrem Wunsche zu willfahren, und entledigte sich dann auch gewissenhaft seines Auftrages.

Sobald aber Ruchrinde diese Botschaft vernommen hatte, sing sie jämmerlich zu weinen an, eilte fort und kehrte nie wieder zurück. Das betreffende Haus in Portels steht jetzt noch, gehört einem Eberli bei der Mühle, ist aber dato unbewohnt.
J. Natsch

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Das Gleiche wird auch an andern Orten erzählt, so in Fild, bei Sargans. Muggisturz sei Ruchrindens Vater gewesen.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 292, S. 161f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, August 2005.