272. Rasch gewählt

In Mels erzählte man vor bereits neunzig Jahren, ein junger Mensch sei arg vom Schrättlig gedrückt worden. Da riet ihm jemand, alle Offnungen, durch welche der Schrättlig in sein Schlafgemach kommen könne, zu verstopfen bis auf eine nahe seinem Bette, in diese aber, sowie das Wesen wieder im Zimmer sei, schnell einen Zapfen zu stoßen. Der junge Mann tat es und erstaunte, als er am Morgen einen sonderbaren Vogel auf der Bettstatt sitzen sah, welcher, als er keinen Ausgang fand, sich in ein sehr schönes Mädchen verwandelte. Der Melser fand Gefallen an ihm, ließ es kleiden und nahm es zur Frau. Wiederholt fragte sie ihren Mann, was der Zapfen inder Wand zu bedeuten habe und bat ihn, er soll denselben entfernen. Er blieb aber fest, bis er nach zwei Jahren ihrem Bitten nachgab. Kaum war das geschehen, so fielen der schönen Frau die Kleider vom Leibe; sie schwang sich fort und sang im Verschwinden: "Hei, wie klingen die Glöcklein in Venedig so schön!" - Vater und Kinder haben sie nie wieder gesehn.
Dr. Henne-Am Rhyn, Deutsche Volkssage.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 272, S. 146f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.