71. Rentierflechte

Die Rentiersflechte war mit Muttern und Ritz das beste Futterkraut der Alpen; sie waren so milchreich, daß die Kühe täglich dreimal gemolken werden mußten. Dessen wurden die Älpler überdrüssig, und sie singen an zu murren:

"Ach, melken, melken immerfort!
O, wärt ihr Kräuter längst verdorrt,
Die ihr so reichlich sprießet;
Von Milch ihr überfließet!"

In ihrem Arger stießen sie sogar die Verwünschung aus:

"Verflucht sei Cypro, Muttern und Ritz
Vom Rhein bis auf die höchste Spitz'!"

Die drei Kräuter verdorrten. Nun aber erwachte in einem der Knechte das böse Gewissen; er suchte das Unheil wieder gut zu machen und rief:

"Behüt mir Gott Muttern und Ritz
Vom Rhein bis auf die höchste Spitz'!"

Diese zwei erhielten ihre früheren Eigenschaften wieder; der Cyprian aber, der im Gegenzauber vergessen worden war, erwachte nicht mehr zu seinem Leben.
Wartmann, Volksbotanik

Cyprian ist der Name der Rentierflechte Cladonia ragniferina. So wird die Flechte im Werdenbergischen, in Sargans und auch in Bünden genannt, wo die Sage in vielen Variationen vorkommt. In Bünden heißt die Pflanze auch "Fideri". Die Rentierflechte wird oft verwechselt mit dem isländischen Moos, Cetraria Islandia, welche sich auf den trockenen Alpenweiden oft Gesellschaft leisten, und auf welches sich die Sage übrigens auch bezieht. In Bünden heißt diese Pflanze Massigge, Masegga.

Die Muttere, Muttara, ist das Meum muttelina, die Alpenbärenwurz. Der Name Muttara, Mutteri, Mutternen geht durch die Alpen der ganzen deutschen Schweiz, Doch ist er aus dem Romanischen abgeleitet und hat mit dem deutschen Wort "Mutter" nichts zu tun. Die Appenzeller heißen die Bärenwurz "Rom-Blueme", Rahm-Blume.

Ritz, Riz, ist in Bünden der deutsche Name für Plantago alpina, für den Alpenwegerich. Im Berner Oberland heißt er Adelgras oder Nadelgras.

Eine Sage, in welcher Cyprian, Muttern und Ritz zusammen vorkommen, stammt kaum aus der romanischen Zeit, sondern läßt schon deutschredende Bewohner voraussetzen. Cyprian ist überhaupt ein verdächtiges Wort, dessen Ursprung noch dunkel ist.
Th. Schlatter

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 71, S. 31f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, April 2005.