245. Der Sardonagletscher

Wo jetzt der Sardonagletscher seine ungeheuren Eismassen ausbreitet, blühte und grünte einst die herrlichste Alp weit und breit. Der Senn, der Sohn einer Witwe von Elm, war stolz auf diese, pochte auf seinen Reichtum und baute eine neue Sennhütte.

Er hatte eine Geliebte, mit welcher er ein gottloses Leben führte, Einst kam das alte Mütterchen wieder herauf zu seinem Sohne. Sonst war es immer freundlich aufgenommen worden, und jedesmal kehrte es, beladen mit Butter und Käse, freudig nach Hause zurück; aber jetzt hatte Kathrin den Sohn verführt, und die Liebe zur Mutter hatte aufgehört.

Nach einem kärglichen Mahle schickte er die Mutter heim. Als der Senn seine Geliebte von weitem kommen sah, baute er ihr, damit sie die Schuhe nicht beschmutze, aus den schönsten Käsen eine Treppe bis zur Sennhütte,

Das alte Mütterchen, daheim angekommen, sah, wie schändlich es vom Sohne betrogen worden. Der Senn hatte ihm den Korb mit Mist gefüllt und diesen nur oben mit etwas Butter und Käse belegt.

Da sprach es, in seinem Herzen tief empört, den Fluch aus, daß Schnee und Eis die Alp und ihren Sohn samt der Dirne auf ewige Zeilen bedecken mögen.

Der Fluch ging in Erfüllung. Hochgewitter brachen in den Gebirgen los. Kathrin und der Senn kamen jämmerlich um, und die Alp liegt nun unter ewigem Schnee und Eis. Vom Gletscher her hört man oft den Ruf:

"Ich und mi Vieh Und mi Hundli Parvi Und mi Schätzli Kathri Müssen ewig unterm Gletscher si!"
N. Senn, Chronik.

***

Die Sage kommt im ganzen Alpengebiet vielfach vor. Sie veranschaulicht den Volksglauben, daß keine Sünde so hart bestraft werde wie der Undank des Kindes gegen die Mutter. Wer die Mutter schlägt, dem wächst die frevelnde Hand dereinst sogar zum Grabe heraus. - Die Schlechtigkeit des Sennen auf der Sardona-Alp erfährt eine Steigerung durch den Umstand, daß er Milch und Butter durch seine Gabe erst noch verächtlich macht. Verschüttete Alpen findet man in großer Zahl; die Verschlechterung des Hochgebirgsklimas durch gedankenlosen Holzschlag mag manches erklärlich machen; auch Steinschlag und Lawinen helfen getreulich mit. Der Volksmund aber ist geneigt, jeden Schaden auf eine bestimmte Schuld und auf eine übernatürliche strafende Macht zurückzuführen.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 245, S. 123f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.