279. Die neckischen Singvögel

An einem lieblichen Frühlingstage ging ein Mann von Mädris mit seinem Knaben I. F. A, in das Maiensäß zuvorderst in den Gigerbergen. Dort durchstreifte der Junge Busch und Wald, um Vogelnester zu suchen, an denen er immer ein ganz besonderes Wohlgefallen hatte.

Auf seiner Entdeckungsreise erblickte er auf einmal fünf kleine, goldgelbe Vögelein vor sich, welche zahm zu sein schienen und wunderliebliche Melodien sangen. Solche hatte er noch nie gesehen. Er schlich sich hinzu, um eines davon zu fangen, und es gelang mit leichter Mühe. Sobald er aber den Vogel betrachten wollte, war er seineu Händen wieder entwischt und mit den andern um einige Schritte weitergehüpft. Das Gleiche geschah noch einigemale, bis endlich die Vogel hinter einem großen Steinhaufen verschwanden.

Hier blieb der Knabe erstaunt stehen; denn er hatte diesen Steinhaufen ebenfalls noch nie gesehen, obschon er mehr als hundertmal vorher den gleichen Weg gegangen war. In dem Steinhaufen befand sich eine kleine, wie künstlich angelegte Grotte oder Höhle, auf deren Boden ein mit glänzenden Holzkohlen ausgestopfter seidener Strumpf lag.

In der Meinung, dies alles könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, wurde es ihm unheimlich, und er lief, als wenn er verfolgt würde, zu seinem Vater in die Berghütte zurück, um ihm das Gesehene zu berichten.

Der Vater murrte darüber, daß er nicht den Mut gehabt habe, den Strumpf mit den Kohlen wegzunehmen und herzubringen; ihr Glück wäre dann gemacht gewesen, indem die Kohlen sich in Gold verwandelt hätten. Sogleich machte sich der Knabe wieder auf den Weg, um die Kostbarkeiten zu holen.

Unterdessen war aber der Steinhaufen samt Grotte, Strumpf und Kohlen verschwunden und somit das Glück verscherzt.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 279, S. 152f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.