282. Die Steckenfahrt

Der Hausknecht einer geachteten Bürgerfamilie hatte bemerkt, daß seine Meisterin mit ihrer Tochter hie und da am Samstag in der Nacht fortgehe und erst gegen morgen wieder heimkomme. Er wollte sich diesfalls gehörigen Aufschluß verschaffen. Am folgenden Samstag legte er sich nach dem Nachtessen auf die Ofenbank und fing bald ordentlich zu schnarchen an. Frau und Tochter wollten ihn wecken, nachdem die übrigen Hausgenossen sich zu Bette begeben hatten; allein er ließ sich weder durch Rufen noch durch Rütteln aus seinem Scheinschlafe aufstören, und die Tochter sagte endlich: "Wir wollen ihn liegen lassen und uns reisefertig machen; der schläft ja so fest wie ein Murmeltier im Winter." Gefagt, getan. Sie nahmen aus einem kleinen "Häfeli", das auf einem Gestelle über der Stubentüre gestanden halte, eine Salbe, beschmierten damit zwei Besenstiele, setzten sich rittlings darüber und sprachen: "Oben us und nienen a!" worauf sie verschwanden.

"Sind das also derlei Zugvögel!?" murmelte der Knecht, indem er sich aufrichtete und das geheimnisvolle "Häfeli" herunternahm. Da er nun auch noch sehr gerne gesehen hätte, wo die Damen hingezogen seien, und er vermutete, die Salbe könnte allenfalls auch ihm ihre Zauberkräfte leihen, holte er einen ausgedienten Besenstiel aus einer Ecke hervor und präparierte ihn nach seinem besten Wissen und Können, Den Spruch hatte er sich aber nicht recht gemerkt, und er sagte dann aufs Geratewohl: "Oben us und überall a!" Das wirkte. Er wurde unverweilt in den Kamin hinaufbefördert, dort aber so erbärmlich hin und wider geschlagen, daß er endlich übel traktiert herabfiel; doch setzte er sich gleich wieder auf das Steckenpferd, welches diesmal, nachdem er den richtigen Zauberspruch gefunden hatte, dem Willen des Reiters vollkommen entsprach. In rasender Eile, wie vom Sturmwind getragen, zog's mit ihm über Seen und Flüsse, über Berge und Täler, und schon nach wenigen Augenblicken war das Ziel der Wanderschaft erreicht.

Der Knecht kam, er wußte nicht wie, in einen großen, prachtvoll dekorierten und erleuchteten Saal, wo eine große Gesellschaft versammelt und ein Ball veranstaltet war. Meisterin und Tochter befanden sich auch unter den Anwesenden und waren nicht wenig verblüfft, als sie ihn eintreten sahen. Doch kamen sie nach einigem Besinnen und leisem Beraten ganz freundlich zu ihm und fragten ihn, ob er auch Mitglied dieser Gesellschaft sei. "Nein, antwortete er; ich bin bloß Kandidat, möchte aber nun als Mitglied eingeschrieben werden." Hierauf wies man ihn in ein Nebenzimmer, wo auf einem schimmernden Trone ein fürstlich gekleideter Herr saß, welcher ihn anredete und sprach: "Sie werden hergekommen sein, daß wir Sie in unsere Genossenschaft aufnehmen. Sie haben mir nachzusprechen:

"Ich stehe auf den Mist
Und verlaß' den Herren Jesu Christ!"

Ohne langes Zögern sagte hierauf der Knecht:

"Ich stoh uf ä Mist
Und weiß, daß du der Tüfel bist!"

Kaum waren diese Worte über seine Lippen gekommen, so war auch die ganze Herrlichkeit verschwunden, und er befand sich in einer ihm ganz unbekannten Gegend, auf einem weiten, öden Riete. Da er keine Lust hatte, hier zu übernachten, suchte er sich in der Ferne einen Punkt aus, wo er am sichersten menschliche Wohnungen anzutreffen hoffte, und marschierte dann rüstig darauf los. Gerade als die Sonne den ihm sehr willkommenen Tag ins Land brachte, kam er in ein Städtchen, dessen Einwohner jedoch eine Sprache hatten, von welcher er kein Wort verstand. Unter solchen Umständen wußte er nichts Klügeres zu tun, als zum Herrn Pfarrer zu gehen, welchem er sich leicht verständlich machen konnte, weil dieser ein sprachkundiger Herr war. Als der Pfarrer das Anliegen des Knechtes vernommen hatte, erteilte er ihm den Rat, er solle zuwarten bis zum nächsten Samstag. Da er doch seinen erprobten Besenstiel noch habe, soll er den Versuch machen, ob er nicht auf gleiche Weise wieder zurück nach Hause komme. Der Knecht befolgte den Rat und kam dann auch wohlbehalten in seine Heimat, wo er allererst seiner bisherigen Herrschaft den Dienst kündete.
J. Natsch

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 282, S. 154ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, August 2005.