369. Der Stubetiknabe als Esel

Am Murgerberg wohnten zwei Mädchen, welche im Rufe der Hexerei standen. Dessenungeachtet wurden sie von einem jungen Burschen öfters besucht, welcher ihnen aber niemals willkommen kam. Sie trieben auch immer nur ihr loses Spiel mit ihm und hielten ihn zum besten. Einst, als sie zum Fenster hinausschauend ihn wieder kommen sahen, sprach die eine unwillig: „Wenn nur der lästige, dumme Junge sogleich zu einem Esel würde!" Und richtig, der böse Wunsch war pünktlich in Erfüllung gegangen und der treue Liebhaber in einen grauen Langohr verwandelt. Wie leicht zu begreifen ist, erschrak dieser entsetzlich ob seinem Mißgeschick und wußte nun kaum, was er beginnen solle. In dieser Gestalt mochte er nicht in sein Vaterhaus zurückkehren.

Er entschloß sich endlich, zur Mühle an den See hinabzutraben und dort sein weiteres Schicksal zu gewärtigen. Hier fand ihn der Müller und stellte ihn ein, weil ihn sonst niemand haben wollte. Der verwünschte Junge tat dann als Mühlesel geduldig und redlich seine Pflicht; nur ging er oftmals zur Nachtzeit heimlich aus dem Stalle oder ab der Weid zum Hause der Schwarzkünstlerinnen an den Berg hinauf in der Hoffnung, von denselben endlich doch noch aus seinem traurigen Zustande erlöst zu werden.

Da hörte er die eine einmal sagen: „Unseres frühern Liebhabers muß man sich doch fast erbarmen. Der arme Narr könnte sich selbst helfen, wenn er es recht anzugehen wüßte; er müßte ja nur am Fronleichnamsfeste nach dem Gottesdienste von dem frischen Laube der Zierbäume fressen, welche in der Kirche aufgestellt sind."

Als der verwünschte Bursche dies gehört hatte, sprang er in freudigem Galopp zur Mühle zurück und besorgte da unterdessen wieder seinen Dienst. Am besagten Festtage machte er, daß er nach dem Gottesdienste trotz allem Abwehren von herumstehenden Kirchgängern in die Kirche kam, wo er dann auch nach dem Genusse des Laubes sogleich wieder die menschliche Gestalt erhielt.

Da diesen letztern Vorgang gerade niemand beobachtet hatte, so hielt er seine Erlebnisse wohlweislich geheim bis kurz vor seinem Ableben; den Seinen hatte er bei seiner Zurückkunft angegeben, er sei in der Fremde gewesen.
J. Natsch

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 369, S. 207f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.