116. Venediger

Unsere Berge sind erzreich. Das wußten vor Zeiten die Venediger; diese kamen her und sammelten kostbare Steine in ihre Säcke. Sie sagten, man werfe hier mancher Kuh einen Stein nach, der mehr wert sei als die Kuh selbst. Die Venediger fanden aber auch flüssiges Gold; an gewissen Stellen unserer Felsen stellten sie ein Gefäß hin, in welches das Gold träufelte. Waren die fremden Männer reich genug, so kehrten sie nach Venedig zurück, wo sie in schönen Palästen wohnten. Die Fußböden der Häuser, ja sogar die Straßen der Stadt waren mit Talern belegt.
Nach N. Senn, Chronik.

Tatsächlich enthalten viele unserer Hügel und Berge mehr oder weniger reiche Erzadern, und an vielen Orten wurde in unvordenklichen Zeiten von unbekannten Händen nach diesen Schätzen gegraben. Nun lag es am nächsten, alle diese Minerarbeiten auf das Zwergenvolk zurückzuführen. Die fremden Goldsucher haben darum so manche Züge behalten, die an die Zwerge erinnern; sie sind überall Heiden. Sodann mag der Bergbau namentlich von unberufenen Händen betrieben worden sein, da die Einheimischen sich nützlicher zu beschäftigen wußten. Für unbekannte Leute ist bald eine Bezeichnung gefunden; was nicht deutsch ist, heißt heute noch kurzweg welsch, und jeder Fremde ist in gewissen Gegenden Italiens einfach ein Engländer, In Graubünden waren es die übermäßig reichen Bewohner von Plurs, die überall Gold suchten und auch fanden, und zwar tropfte es förmlich flüssig aus dem Stein. Davon aber wurden die Leute übermütig und wendeten sich von Gott ab, und deswegen auch hat der Berg den Flecken Plurs zugedeckt.

Nun war ja Venedig seiner Zeit ebenfalls ein reiches, glänzendes Staatswesen, und der Schluß liegt nahe, daß der Volksmund den Reichtum der schönen Lagunenstadt auf solche Quellen zurückzuführen wußte. Endlich hat man nur noch in Betracht zu ziehen, daß ein gewöhnliches Menschenkind die geträumten Schätze in unserm Gestein nicht zu entdecken vermochte, so war der fremde Goldgräber, der glücklicher sein wollte, auch gleich zum Zauberer geworden, der mit unsichtbaren Gewalten im Bunde stehen mußte. Der Venediger ist also ein Zwerg, der zum heidnischen, fremden Zauberer ausgewachsen ist.


Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 116, S. 55
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Mai 2005.