262. Das Viehrücken auf den Alpen.

Sind die sechzig oder mehr Kühe einer Sente in den hocheingezäunten und meistens gedeckten "Stofel" oder Melteplatz hineingetrieben, schicken sich die Knechte zum Melken an, und man hört dabei zufällig weder den Ton einer Schelle noch die Stimme eines Hirten noch überhaupt einen andern Laut als etwa den vom Melken. Da urplötzlich, wie durch eine geheimnisvolle Panik hinweggezaubert, verschwinden alle Kühe aus der Umzäunung.

Die Knechte aber mit ihren Eimern sitzen unberührt auf den einbeinigen Melkstühlen und sehen, wie die Kühe muhend und zitternd zurückschauen.

Nach einem solchen Fortrücken geben die Kühe gewöhnlich für einige Tage weniger Milch und will man beobachtet haben, daß sie "Kornspreuel" zwischen den Hufen hatten, wie es im Jahre 1856 inder Wangser Alp Verain der Fall war.

Auf der Alp Mädems war das Vieh im Jahre 1864 zweimal auf diese Weise gerückt und würde es zum dritten Male getan haben, wenn nicht ein Knecht es sofort bemerkt und schnell "ohä" gerufen hätte. Schon waren alle Kühe in Bewegung, dann aber muhend wieder stehen geblieben.

Als besonders merkwürdig ist zu notieren, daß beim zweiten Viehrücken im Hintersäß dieser Alp, wo die Kühe beider Sennhütten auf einem und demselben "Stofel" zum Melken getrieben werden, nur die Tiere der einen Hütte fortgerückt waren.

Einst hat ein erfahrener Knecht sogleich nach dem Viehrücken sein Wams in eine Ecke geworfen, dann mit seinem Messer dareingestochen und damit, wie es sich nachher zeigte, den Zusenn einer benachbarten Alp getötet, der allem Anscheine nach mittelst böser Kunst den Spuk bewirkt hatte.
I. Natsch

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Das Viehrücken wird aus dem Sarganserland vielfach gemeldet und zwar nur aus den Alpen. Man weiß, wie schreckhaft die Kuh ist, und da mag an der Herde manches zu beobachten sein, was unerklärlich bleibt.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 262, S. 141f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.