Sagen des Kantons St. Gallen

Dem st.gallischen Volke zu seiner ersten Centenarfeier gewidmet
von
J. Kuoni, Lehrer.

Mit 16 Illustrationen nach photogr. Aufnahmen von Schobinger & Sandherr in St. Gallen.
vom h. Regierungsrate subventioniert.

St. Gallen 1903

Vorwort

"Wer wird denn heute noch so dummes Zeug glauben?" Diesem Ausruf der Verwunderung kann man überall begegnen, wo man nach Sagen fragt.

Nur unbesorgt! Wir muten keinem Menschen zu, daß er derlei Dinge wieder glaubt; aber unsere Zeit hat nun einmal ihre Freude dran, die alten Himmelbetten, die Truhen etc, aus der Rumpelkammer ans Tageslicht zu bringen, und keinem Eiferer fällt es ein, sie wieder in Gebrauch zu setzen. Für ein schweres Stück Geld werden die nutzlosen Dinge erstanden und in großen Luxusbauten hinter Schloß und Riegel verwahrt. Warum? Es sind kulturhistorische Denkmäler aus unserer Väter Tage.

Solche Denkmäler aber sind die Sagen auch; ja sie führen noch ungleich weiter zurück als die meisten Dinge in den historischen Museen. Sie wurzeln im tiefsten germanischen Heidentum, das durch alle Jahrhunderte das christliche Fühlen und Denken begleitet hat, bald auffälliger, bald in geheimer Weise.

Die beiden weiblichen Teufelinnen, die dem heiligen Gallus bei seinem ersten Besuch an der Steinach entgegengetreten sind, haben leibliche Gestalt so gut wie der Bär; das verstockte Heidentum und die wilden Tiere des weiten Waldes mögen den Glaubensboten manchen sauren Tag bereitet haben. Ein schauriger Ernst spricht aus allen diesen alten Sagen. Auch daß Wiboradas Zelle von bösen Geistern in hunderterlei Gestalt umschwärmt war, muß uns gar nicht wundern; die Naturgewalten sind heute noch stärker als der einzelne Mensch und verbreiten Grauen und Schrecken, auch wenn uns auf der Schulbank noch so eifrig erklärt wurde, wie alles auf natürliche Ursachen zurückzuführen sei und einzig die göttliche Allmacht alles schicke, leite und wende. Wie das Minnelied und Heldenepos, von Burg zu Burg getragen, mächtige Binde- und Bildungsmittel in den höheren Ständen wurden, so war all das Sagenwerk ein gemeinsamer Bildungsschatz der breiten Volksschichten, also hier wie dort altes, echtes Gold!

Sagen sind also nicht Lügen! Sie sind der Ausdruck einstigen Empfindens und Denkens, sind die Hauschronik unserer Väter, wo wir die intimsten Eintragungen verzeichnet finden; sie sind ein wichtiger Teil der Volksreligion, von der Sailer sagt, daß sie die Philosophie des Volkes sei. So wurde der Volksaberglaube zum lebenden Gesetzbuch, das in seiner Weise das Gute pflegen und das Böse bekämpfen wollte.

Zwei Beispiele dafür, wie sehr solche Überlieferungen einst Gemeingut des ganzen Volkes waren.

Im Bründlensee, auf dem Pilatus, soll bekanntlich der Landpfleger Pilatus als ein unseliger Geist hausen, weil er dort hinein gebannt worden sei. Er verhält sich ruhig, wenn man ihn nicht neckt; ruft man ihn aber, oder wirft man gar Steine ins Wasser, so kommt er heraus und überschüttet die Gegend mit den schrecklichsten Unwettern. Im Jahre 1518 kamen vier Männer, die den gelehrtesten ihrer Zeit beigezählt werden dürfen - Vadian, Grebel, Mykonius, Hylotectus - bei der luzernischen Obrigkeit um die Erlaubnis ein, den See besuchen und die Wahrheit dessen, was von ihm erzählt werde, erforschen zu dürfen, An Ort und Stelle aber wurden diese freidenkenden Männer von einen wahren Schauer überfallen. Sie glauben an die Wahrheit des Erzählten, glauben auch, daß Gewitter und Stürme aus dem See aufsteigen.

Cysat (1545-1614), römischer Ritter, Pfalzgraf, apostolischer Protonotar, Staatsschreiber der Stadt und Republik Luzern, ein Mann von außergewöhnlicher Gelehrsamkeit, schreibt von den "Berglüten oder Herdmännlinen", die am Nigi und Pilatus hausen, und führt viele hochachtbare Zeugen an, die solchen begegnet sein wollen. "Ich habe selbst in meinen jungen Jahren einen alten Herrn, Heinrich Omlin, gekannt, welcher bei Lebzeiten Landammann von Obwalden und in seiner Jugend ein namhafter Jäger war. Von dem habe ich in Gegenwart vornehmer Personen erzählen hören, daß ihm
einst etwas mit einem Eidmännchen zugestoßen, als er im Gebirge den Gemsen nachging, um etliche zu erjagen. Als dasselbe ihm Vorwürfe gemacht und ihm befohlen, sein Wagnis nicht fortzusetzen, habe er ihm verächtlich zugesprochen und wegen seiner Kleinheit auf sein Verbot nicht geachtet; darauf habe es ihn, der doch ein starker Mann gewesen, gepackt und über einen Felsen hinuntergestürzt, wo er einige Stunden halbtot gelegen, bis er von den Seinigen gefunden, erquickt und heimgetragen worden sei."

Cysat nimmt an, "daß solche keine natürliche, rechte Menschen, sondern Geister seien und zwar aus der Zahl derjenigen, welche mit Lucifer aus dem Himmel verstoßen wurden, wie etliche glauben wollen, die sich auf eigene Geständnisse jener Geschöpfe gegenüber einigen Menschen berufen."
Wie sehr übrigens alle Volksschichten bald nachher von dem unseligen Hexenwahn ergriffen wurden, beweisen die zahllosen Hexenprozesse. Ein furchtbarer Alp lag auf der ganzen Menschheit, ein "Schrättlig", wie er grausamer nicht hätte erscheinen können.

Jene Zeiten sind nun glücklicherweise vorbei; die Aufklärung hat den Bann gebrochen, so daß wenigstens das Gerichtswesen von jenen übernatürlichen Mächten keine Notiz mehr nimmt. In unsern Bergtälern glimmt es zwar noch ganz lebhaft, wenn auch ganz ungefährlich unter der Asche fort; im Hügelland aber finden sich nur noch ganz spärliche Überreste. Es war also höchste Zeit, nach diesem alten Golde zu graben, ehe es völlig verschüttet sein wird. -

Es konnte nicht in unserer Absicht liegen, mit den Gelehrten vom Fach in Konkurrenz zu treten, das aufgefundene Material wissenschaftlich zu ordnen und bis ins kleinste erklären zu wollen; uns lag daran, ein handliches, leicht verständliches Volksbuch zu schaffen, in erster Linie aber der Schule ein wertvolles Material für den heimatkundlichen Unterricht aufzuschließen. Der Erzähler macht den Unterricht interessant, macht den Kindern und damit dem Volke die Heimat lieb, wenn er seine Stoffe auf der heimischen Erde sucht, findet und zu gestalten weiß.

Ob aber die Sagen auch wirklich die richtigen Stoffe sind? - Wir haben mit Absicht den Kreis weit gezogen, haben auch volkstümliche Überlieferungen mitlaufen lassen, die nicht eigentlich zu den Sagen gehören, ja wir hätten deren gern noch viel mehr geboten, wäre uns mehr Raum zur Verfügung gestanden. Aus der Heimat ist jede Kleinigkeit interessant; alles reizt zum Nachdenken und zum Nachforschen. Auch die eigentlichen Sagen sind keineswegs so schal und inhaltsarm, wie der nüchterne Verstandesmensch glaubt; sie bergen einen tiefen Sinn. Sodann möchten wir die ängstlichen Gemüter beruhigen, die da fürchten, wir könnten in einem übel angebrachten Eifer den Aberglauben neu aufleben machen. Nichts liegt unserer Absicht ferner! Wir wollen belehren und aufklären. Der st. gallische Sagenschatz ist einer ernstlichen Prüfung durchaus wert; denn er zeigt eine Mannigfaltigkeit und Tiefgründigkeit, die füglich in Erstaunen setzen darf.

Am schwersten wird dem Einwand zu begegnen sein, daß die Sagen in ihrer großen Mehrzahl einen allzu ernsten Charakter aufweisen, daß deren viele sogar schaurig klingen und daß es für alles Volk einer eigentlichen Erlösung gleichkäme, wenn solche Dinge wirklich in Vergessenheit geraten dürften, statt daß sie im Volksgemüt wieder aufgefrischt würden. Das kann nur zutreffen, wo man unsere Absicht mißversteht und wo man das Wesen der Sage nicht richtig erkennt. Auch eine Gefährdung des religiösen Denkens befürchten wir nicht, sondern erhoffen vielmehr eine Stärkung desselben. Alles Übernatürliche der Sagenwelt ist heidnischen Ursprungs, tritt aber dem christlichen Glauben in keiner Weise hindernd in den Weg, sondern läßt denselben nur in einem viel schöneren Lichte erglänzen, da wir auf einem einfachen Wege zur Einsicht darüber gelangen können, wie sehr der heidnische Kultus unserer Väter das gläubige Herz belastet hat und wie glücklich wir uns preisen, diesen Schrecknissen entrückt zu sein. Wir wissen, daß die liebende Hand eines guten himmlischen Vaters unsere Schicksale bestimmt, ohne dessen Willen kein Haar von unserm Haupte fällt; unsere Vorfahren aber sahen sich von vielen feindlichen Mächten umringt, die man sich mit List oder Gewalt günstig stimmen mußte, wenn man bestehen wollte. Der Gott der christlichen Welt ist der Gott der Liebe, der jedem guten Willen mit Wohlgefallen entgegensieht; dazu ist er der Allmächtige, dessen Arm niemals zu kurz ist. Die Sagenwelt aber steht durchaus noch unter dem heidnischen Gottesbegriff, der überall Furcht und Zittern erweckt.

Oberster Gott der alten Deutschen war Wodan, der Sturmgott, der alles durchdringt, alles in die zerstörende Bewegung versetzt. Er reitet auf einem milchweißen Pferd, ist in einen weiten, blauen, fleckigen Mantel gehüllt und trägt einen breitkrämpigen Hut; bald reitet er allein, bald an der Spitze der wilden Jagd, also mit einem großen Gefolge. Eine Eule fliegt dem Zuge voran, Raben und Hunde folgen mit den Lichtern. Wer dem Zuge begegnet, muß sich auf das Angesicht platt auf den Boden legen, dann wird er nicht mitgerissen. Schaut man zum Fenster hinaus nach dem Zug Wodans, so erhält man einen betäubenden Schlag, oder man wird blind, sogar wahnsinnig. Wo Wodan sein Roß weidet, da windet es fortwährend.

Die Schilderung ist der Natur entnommen und paßt ganz auf den Gewittersturm. Wodans Mantel ist der Himmel, der Hut das graue Gewölk, der Asche-leckende Hund, der sich in Küche und Kamin verirrt, ist der Wind. Ihnen kann man nicht widerstehen. Der schwefelstinkende Pferdeknochen, den er den Leuten zuwirft, ist der Blitz.

Wodan ist es nun, der vor allen andern Göttergestalten in unzähligen Sagen weiterlebt. Sein wütendes Heer erscheint nach dem Volksglauben immer noch, besonders in den zwölf Nächten vom 21. Dezember bis 3. Januar, in den "Lostagen", an denen man die Witterung für die kommenden zwölf Monate ablesen kann. Aber auch zu andern Zeiten erscheint das Wuetihee, Wüetihö, Muotiseel und wie es sonst noch genannt wird. Im Oberland ist es das Gräggi und das Bachgschrei, im Toggenburg das Tuutier. Wodan ist auch der Schimmelreiter, der unter gar verschiedenen Namen da und dort erscheint und der beim ländlichen Fasching nicht fehlen darf, Wodan schläft in unfern Burgruinen und bewacht dort die Schätze; von Zeit zu Zeit - gewöhnlich alle 100 Jahre einmal - wacht er auf und sieht sich nach Erlösung um. Eulen, Raben und Hunde sind seine Begleiter und Boten. Aber Wodan ist auch der Jäger, der Sänger, der Spielmann, der wilde Geißler, der Büscheler, die Berg und Tal durchstreifen und überall sind und nirgends; Wodans Gestalt erkennt man auch im ewigen Juden. So ist es wieder Wodan, der das Volk der Friesen anführt und mit ihm aus unfern Alpentälern in einem scharfen Ritt nach der alten nordischen Heimat saust. Aus dem Friesenvolk ist das Nachtvolk und das Totenvolk geworden, das durchs Dorf zieht und die Todeskandidaten abruft. Der Volksmund bringt es vielfach mit der Pest in Verbindung, und es ist wohl denkbar, daß das Volksgemüt in jenen schweren Zeiten besonders empfänglich war, ein solches Phantasiegebilde auszugestalten. Manche Leiche mag nachts weggetragen worden sein, und manche Familie mag unter dem Schutz der Dunkelheit heimlich das Haus verlassen und irgendwo einen Zufluchtsort gesucht haben; so bekam der geängstigte Mensch manches zu sehen, was in seiner Wirkung düster genug erschien. Wo man aber zu Großvaters Zeiten das Nachtvolk wirklich gesehen und gehört haben will, da waren es Sinnestäuschungen. Wie oft träumt man und kann sich selbst kaum davon überzeugen, daß man nur geträumt hat. Nun achte man auch auf die absonderlichen Begleiterscheinungen in allen Nachtvolk-Sagen, und man wird gleich herausmerken, wo der Spuk sitzt. Die st. gallischen Sagen bewegen sich diesfalls noch in einem kleinen Rahmen; andernorts erscheint das Nachtvolk nicht ungern mit Musik und Tanz, und alle Teilnehmer tragen den Kopf unterm Arm oder eine Kochkelle in der Hand u. Zu den Kindern der deutschen Gaue kommt zu Weihnachten der Knecht Ruprecht, zu unsern Kindern in der Schweiz der heilige Nikolaus, die ebenfalls auf Wodan zurückzuführen sind, und dieser alljährlich wiederkehrende Liebesdienst in der Kinderstube mag dem alten Heidengotte angenehmer sein als manches, was ihm sonst noch zugedichtet wird. Das Heu, das ihm die Kleinen bereitlegen, erinnert noch deutlich genug an den berittenen Gott unserer Altväter. Und wo die sinnige Sage Christus und Petrus durchs Land reisen und den alten Kriegsknecht oder einen andern lustigen Gesellen glücklich werden läßt, da haben wir wieder an Wodan zu denken. Endlich sei noch bemerkt, daß viele der gruseligen Spukgeschichten ebenfalls hierher gehören; überhaupt lebt Wodan bei allen deutschen Völkern in unzähligen Erinnerungen fort.

Donar oder Thor hieß bei den Germanen der Gott der Gewitter. Er fährt auf einem Wagen durch die Wolken, schleudert den Hammer und wirft seine Blitze. Zwei Böcke ziehen den Wagen, Sein Lieblingsbaum ist die Eiche, die den Blitz anzieht. Unser fünfter Wochentag, der Donnerstag, hat von Donar den Namen erhalten, dem auch ein kräftiger Fluch gilt. Die Gestalt des Teufels in der Sage ist auf Donar zurückzuführen; in ihm leben auch die Riesen und Drachen fort. Hammer, Eiche, Bock, Hahn, Hirschkäfer, Hasel, Rotkehlchen und Eichhörnchen haben ebenfalls in vielen Sagen ihren Platz behalten; sie alle gehören dem rotbärtigen Donar zu.

Ziu, der Kriegsgott, galt als einäugig und einhändig. Dieses eine Auge erinnert an das eine Licht des Himmels, die Sonne, Einäugige Menschen und Tiere kennt die Sage heute noch. An Ziu erinnert der dritte Wochentag, der Dienstag (Zius-Tag, Iistig). Der Freitag erinnert an Freyr und Freya. Dem Freyr war der Eber heilig; das Schwein ist wie der Bock ein Teufelstier, das den nächtlichen Spuk häufig begleitet. Freyas Lieblingstier ist die Katze, die ihren Wagen zieht.

Storch und Holunder sind der Göttermutter Holda, Holla oder Holla geweiht, die im Märchen fortlebt und in der Kinderstube oft genannt wird. Sie sitzt im Kinderbunnnen und hütet dort die Ungeborenen. Alle indo-germanischen Völker faßten das flüssige Element als das lebenschaffende und lebenerhaltende auf. Das irdische Wasser stammt vom himmlischen, welches im Regen herniederströmt. Das Meer ist nur die irdische Form des Wolkenmeeres; der Ganges ist der vom Himmel herniedergetommene Himmelsstrom der Milchstraße; die Quellen und Brunnen sind nur die Abbilder der himmlischen Quellen und Brunnen. Darum werden die Kinder, die vom Himmel herkommen, den Eltern aus Brunnen und Teichen hergebracht und zwar durch den Storch, der dem Wasser und den Wolken heilig ist. Auch der Holunder ist heute noch heilig; sein Holz darf nicht verbrannt werden, sonst gibt's ein Unglück im Haus oder Stall. Ein Holunderstrauch an der Haus- oder Scheunenecke schützt gegen Heierei, also gegen Schaden. Hat ein Stück Vieh auf der Weide die "Bölle" bekommen, so steckt man ihm einen Holunderstab quer ins Maul. Mit dem Holderstab nahm der Schreiner das Maß zum Sarge, und der Fuhrmann, der den Leichenwagen zum Gottesacker fuhr, bediente sich des Holdersteckens statt der Geißel. - In der christlichen Anschauung ist die Rolle der Holda auf Maria, die Mutter Gottes, übergegangen; sie sitzt bei den Kleinen im tiefen Brunnen, gibt ihnen Brei und spielt mit ihnen.

Das Kinderlied spricht von drei Marien:

Rite, rite, Roßli:
Z' Bade stoht e Schlößli,
Z' Chur stoht e goldigs Hus,
Lueged drei Marie drus.
Die erst spinnet Side,
Die zweit schnetzlet Chride,
Die dritt schnidet Haberstrau;
Bhüet mer Gott mis Chindli au.

Die drei Mareien oder Jungfrauen sind die drei Nornen oder Schicksalsgöttinnen. Die erste spinnt Seide, d. h. den Lebensfaden; die zweite bestreut die Haare mit dem Schnee des Alters; die dritte bereitet uns das Strohlager, das Sterbebett.

Hel hieß bei den Germanen die Todesgöttin, die auf einem fahlen, dreibeinigen Rosse ritt. Nach der christlichen Anschauung wurden ihr die Toten übergeben, die nicht zur Seligkeit eingehen durften; nach ihr ist die Hölle benannt. Der Begleiter der Todesgöttin ist der Helnhund, der den Eingang zur Hölle bewacht; er hat einen großen Rachen und eine blutbefleckte Brust. - Hel und ihr Hund erscheinen in den Sagen sehr häufig und immer als Schreckgestalten,

Neben den Göttern kannten unsere heidnischen Vorväter noch eine Unzahl von Halbgöttern, die ebenfalls in "der Sagenwelt noch fröhlich fortleben. Zu ihnen gehört der Wassermann, der in der Tiefe sitzt und mit seinem Hakenstecken nach den Beinen der Knaben auslangt, um die Unfolgsamen und Unvorsichtigen ins Wasser zu ziehen. Zu ihnen gehören auch die Nixen und Wasserjungfern, die den Hörer mit ihrem wunderbaren Gesang bezaubern und auch etwa zu dem unglückseligen Sprung in die Tiefe veranlassen. Hieher gehören auch die Riesen und Zwerge, überhaupt alles, was mit übernatürlichen Kräften begabt ist, mithin auch die Hexen, die nicht christlichen, sondern heidnischen Wesens sind. Die Tänze, der Genuß des Pferdefleisches, das Trinken aus Pferdehufen, das Aufrichten von Pferdeköpfen - was alles den Hexen nachgeredet wird - weisen deutlich auf die heidnischen Opferbräuche hin. Die Hexen gehören zu Donar und Wodan zugleich; darum tanzen sie gern unter Eichen und reiten auf Besen, Bänken, Bohnenstangen, Kochlöffeln, Deichseln, Heu- und Ofengabeln; sie melken dem Nachbar das Vieh, "verderben" alles, was Leben hat, und machen Sturm, Hagel und Mäuse. Alles, was die christliche Kirche weiht, bannt die Unholdinnen, besonders das Brot, merkwürdigerweise auch das Hufeisen, das mit der offenen Seite nach auswärts an die Türe festgenagelt wird. Auch wo man die Buchstaben C M B (Caspar, Melchior, Baltasar) an die Türe anschreibt, ist ihnen der Eintritt verwehrt.

So sind die Ortlichkeiten, an welche die Sage sich heftet, die Schluchten, die Felsen, die Höhlen, die Bäche und Brücken, die Brunnen und Quellen, die Bäume und Kräuter, die handelnden Menschen und Tiere überall mit Vorbedacht gewählt; denn alle diese Dinge stehen in engsten Beziehungen zu der altgermanischen Götterwelt, was heute mit aller Sicherheit nachgewiesen werden kann. Aus diesem Umstand leiten wir die zuversichtliche Hoffnung ab, daß wir mit unserem kleinen Beitrag zur st. gallischen Volkskunde nicht Furcht pflanzen, sondern willkommene Aufklärung, und daß unsere Handreichung nach keiner Seite mißverstanden werde. Sagen sind alte Münzen: Sie haben ihren Kurs allerdings verloren, nicht aber ihren Wert; dieser hat sich unter dem rollenden Rad der Zeit sogar vervielfältigt.

Zum Schluß erübrigt uns noch, allen Mitarbeitern unsern herzlichen Dank auszusprechen, sowie auch dem Historischen Verein des Kantons St. Gallen und ganz besonders der hohen Landesregierung, die uns durch namhafte Geldbeiträge unterstützt haben.

St. Gallen, im September 1902.

J. K.

Inhaltsverzeichnis.

Stadt St. Gallen.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, S. III - XI
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, März 2005.