74. Wichenstein

Am Semelenberg, in der Nähe des Hirschensprunges, stand in einer Felshöhle das Schlößchen Wichenstein. Dieses gehörte zum Schloß Blatten und wurde von den Appenzellern zerstört. Die Höhle ist 15 Meter breit und tief und heute noch durch eine Mauer abgeschlossen, in welcher ein Türeingang und acht Fensterlöcher zu sehen sind.

Wichenstein war ein von Buschkleppern bewohntes und darum gefürchtetes Raubnest. Die Bösewichte, die hier hausten, sind unselig aus der Welt geschieden und wandeln als große, schwarze Hunde heute noch ihre bösen Wege.

Vor mehr als hundert Jahren ging "Rofahans", ein unerschrockener Oberrieter, nachts hier vorbei. Er hörte wiederholt seinen Namen rufen und folgte der Stimme, die ihn ins Innere der Burg lockte. Da sah er einige altertümlich gekleidete Männer am Tische sitzen, auf welchem eine eichene, eisenbeschlagene Kiste lag. Aber auf dem Deckel saß eine häßliche Kröte, die den Fremdling sonderbar anglotzte.

"Rofahans," sagte einer der Männer, "wenn es dir glückt, dieses Tier zu entfernen, so ist die Kiste dein Eigentum mit allem Geld, das drinnen ist." Hans ließ sich das nicht zweimal sagen; er wollte den Schatz bekommen. Aber ehe er das häßliche Tier berühren konnte, blähte es sich zu riesenhafter Größe auf und gab einen stinkenden Rauch und Qualm von sich. Der Mann floh entsetzt davon und verließ den unheimlichen Ort. Hinter sich hörte er ein höllisches, ein markdurchdringendes Geschrei: "Wehe uns! Jetzt müssen wir wieder tausend Jahre auf unsere Erlösung warten!"
Heinrich Hilty

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Vom Wichenstein führte ein unterirdischer Gang durch den Fels in die Ebene hinab, wo sich zwei Gewölbe befanden. Derselbe ist einmal geöffnet, dann aber wieder zugedeckt worden.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 74, S. 33f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, April 2005.