Der Grüthergeist

Wenn in dunkler Nacht ein einsamer Wanderer beim Schwarzenbach-Hof im Grüth vorbeigehen mußte und die kleine Turmuhr des Kirchleins von Allenwinden langsam bedächtig die mitternächtliche Stunde schlug, da hieß es, sich eilig sputen und beeilen, denn der Grüthergeist konnte nach dem zwölften Schlag erscheinen. Es war dies eine Jungfer mit schwarzem Mieder, fliegenden Haaren und wildfeurigen Augen. Sie schwebte über die Äcker und Matten und saß auch beim alten Sodbrunnen. Bei diesem Brunnen war ihr Lieblingsplätzchen, denn hier hatte die Magd vor vielen, vielen Jahren ein gar schauriges Verbrechen begangen. Sie war auf dem Hofe Dienstmagd gewesen und hatte ihr lediges Kind in dunkler Nacht in den Brunnen geworfen. Nach dieser bösen Schandtat war sie eilig auf ihre Schlafkammer geeilt, aber - welch ein Schrecken! - Als sie die Kammer betrat, schwebte ihr das getötete Kind entgegen. Laut schrie sie auf und eilte davon. Nirgends fand sie Ruhe, immer und immer wieder erschien das unschuldige Opfer ihrer schwarzen Tat. Vor dem Gericht mußte sie ihre Schuld bekennen und der rote Scharfrichter vollzog an ihr sein trauriges Henkeramt. Aber auch nach dem Tode fand die Magd keine Ruhe, denn sie mußte als Grüthergeist um die Stelle ihrer Mordtat büßend wandern. In einigen Nächten habe man sie mit einer helleuchtenden Laterne gesehen. Dreimal komme sie zum Brunnen, werfe jedesmal einen kleinen Stein und wenn sie gegen Ende der mitternächtlichen Stunde komme, stehe sie auf den Brunnenrand und stürzte sich mit schaurigem Weheruf beim Schlag der Kirchenuhr in die Tiefe des Sodbrunnens.

Quelle: Hans Koch, Zuger Sagen und Legenden, Zug 1955, S. 77