Das Hexlein von Risch

Von einem gar bösen Hexlein wußte vor mehr als zweihundert Jahren der Rischer Strumpfweber Josef Franz Meier zu plaudern. Diese Geschichte wurde von ihm vielfach an heimeligen Winterabenden am warmen Stubenofen erzählt:

"Als ich noch jung und ledig war, befand sich hier ein Mädchen, das mich außerordentlich lieb hatte. Wo immer es mich antraf, sprach es mit mir und lud mich mit den herzlichsten Worten ein, zu ihm doch des abends "z'Stubeten" zu kommen. Ich mochte das Mädchen aber nie recht leiden. Es war ein rechter Holdrio und stund nicht in bestem Rufe; es hatte etwas eigenartig Geheimnisvolles an sich. Eines Abends vereinbarten sich einige meiner Kameraden, bei diesem Mädchen zu "dorfen". Ich ging auch mit in das Haus des Mädchens. Dieses hatte aber nur Augen für mich und ließ die andern Burschen ruhig sitzen. Als diese das merkten, zogen sie in das nächste Haus, wo man ihnen wohl mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Ich blieb mutterseelenallein bei dem Mädchen zurück. Nach einer recht gemütlichen Plauderstunde setzte die Jungfer mir einen frischen goldgelben Eiertätsch vor. Gerne hätte ich die Speise mit dem Mädchen geteilt, allein es schützte ein Unlustgefühl vor und lehnte beharrlich meine Einladung zum Mithalten ab. Während ich aß, beschlich mich ein eigenartiges Gefühl und fast hätte ich die Eierspeise nicht genießen können. Sobald ich vermochte, schlich ich gedrückt aus dem Hause des Mädchens.

Nach zwei Wochen fühlte ich ein unwiderstehliches Drängen in mir. Trotz meines innern Widerstrebens mußte ich zu dem geheimnisvollen Mädchen gehen. Als ich zum Heimwesen der Tochter kam, stand sie unter der Türe, froh bereit zu meinem Empfang. Das Gebahren der Jungfer, ihre Redeweise, ja sogar die Wohnstube erfüllte mein Inneres mit einem grausigen Ekel, und doch, ich konnte nicht heim, ich mußte bis zur Mitternacht bleiben. Daheim angekommen, schwur ich, das Haus nie mehr zu betreten und das Mädchen unter allen Umständen für ewig zu meiden, doch schon nach drei Wochen zwang mich eine unsichtbare Hand, die Tochter wieder aufzusuchen. Dieser unabwendbare Drang blieb und alle Vorsätze wurden zunichte. So ging es ein ganzes langes Jahr.

Um den Zwang loszuwerden, nahm ich Handgeld und trat in französische Dienste ein. Das Soldatenleben unter dem Lilienbanner des französischen Königs gefiel mir sehr gut und alle Vorgesetzten waren mit meinen Leistungen ordentlich zufrieden. Ich war just ein Jahr im Dienste des französischen Monarchen, als es mich mit aller Gewalt zu dem Rischer Mädchen heim nach dem Zugerlande zog. Wie ohne Besinnung verließ ich meinen Dienstposten, schlich durch die aufgestellten Wachen hindurch und wanderte Tag und Nacht weiter, immerfort der Heimat zu. Als ich zu meinem Vaterhaus kam, verwehrte eine geheimnisvolle Kraft mir den Eintritt; ich mußte weiter wandern, schnurstracks zu diesem Mädchen. Sie schien ebenso ermüdet wie ich, begrüßte mich voll Wehmut und machte mir Vorwürfe, weil ich sie ohne jeglichen Abschied verlassen hatte. Bis zur Mitternacht mußte ich in der Stube des Mädchens bleiben, ich konnte nicht fort. Als ich erzählt hatte, daß ich gegen meinen Willen heimgekehrt sei, glaubten meine Eltern, daß ich unbedingt verzaubert sein müsse.

Damals war weit und breit im Luzernerland ein Wunderdoktor berühmt. Zu diesem Kandi Mattmann ging ich eines schönen Tages und erzählte ihm mein böses Leid. Als er von mir erfuhr, daß ich von dem Mädchen bei meinem ersten Besuch Speise und Trank angenommen hatte, glaubte er die Ursache meines Leidens gefunden zu haben. Er gab mir ein Pulver mit der Weisung, wenn ich einmal allein zu Hause sei, soll ich die Haustüre verschließen, die Falläden vor den Fenstern aufziehen, auf dem Herd ein Feuer anzünden und dann das Pulver einnehmen. Ich werde hierauf ein Schlänglein erbrechen müssen, das soll ich ungeachtet seines Windens und Züngelns ins Herdfeuer schieben und so elendiglich verbrennen.

Am nächsten Samstag machte ich meinen Eltern den Vorschlag, morgens in die Frühmesse zu gehen, sie könnten dann den Hauptgottesdienst besuchen. Als sie am Sonntag zur Kirche schritten, schloß ich das ganze Haus ab, genau nach den Weisungen des Luzerners. Kaum hatte ich das Pulver eingenommen, da klopfte es an die Türe. Die Stimme der Mutter rief: "Mache rasch auf, ich habe den Rosenkranz und das Gebetbuch vergessen. Schnell, ich komme sonst zu spät!"

Doch das Pulver tat schon seine Wirkung, ich mußte mich erbrechen und es kam wirklich ein kleines Schlänglein zum Vorschein. Rasch packte ich das Tier und wollte es ins Feuer werfen. Da fing an den Falläden ein furchtbares Klopfen an und über mir rumorte es in den Schlafkammern auf ganz fürchterliche Art und Weise. Die Schlange wand sich wütend in meiner zitternden Hand. Ich hatte die größte Mühe, sie ins Feuer werfen zu können. Draußen wurde das Klopfen und Pochen immer heftiger. Die Stimme des Vaters drohte mir; ich glaubte bald, die Haustüre würde eingeschlagen. Aber das Klopfen und Pochen störte mich nicht in meinem Vorhaben, und so wurde ich endlich Herr der Schlange. Im Feuer erstarrte die Schlange, knisterte zischend auf, wurde schwarz und zerfiel in Staub und Asche. Das Klopfen hörte plötzlich auf. Als ich die Haustüre öffnete, war niemand zu sehen.

Bald kamen meine Eltern heim. Verwundert blickten sie mich an und fragten, warum ich so bleich sei und an allen Gliedern zittere. Als ich sah, daß die Mutter Rosenkranz und Gebetbuch in der Hand hielt, frug ich nach dem Grund ihres Klopfens und Rufens. Erstaunt verneinten Mutter und Vater geklopft zu haben. Nun erzählte ich ihnen mein furchtbares Erlebnis.

Seit dieser Stunde war ich von allem Zwang und Drang befreit.

Es verstrich ein halbes Jahr, als ich zufällig am Hause des Mädchens vorbeigehen mußte. Blaß und abgezehrt stand die Jungfer am Gartenzaun und bat mich mit flehenden Worten, bei ihr einzutreten. Ich achtete nicht auf ihre Bitten und ging unbekümmert meinen Weg weiter. Wenige Wochen nach diesem letzten Zusammentreffen war die Tochter eine Leiche."

Quelle: Hans Koch, Zuger Sagen und Legenden, Zug 1955, S. 112