Das verschwundene Kloster

Bei Menzingen stand in uralten Zeiten ein Kloster. Plötzlich verschwand es eines schönen Tages spurlos im Erdboden. Doch vernahm man von Zeit zu Zeit das leise Läuten der Stundenglocke, die zum kirchlichen Gebete rief. Ein einfacher Bauernknecht von Menzingen hörte einst diesen Glockenklang und als er auf dem Berge war, sah er ein hellstrahlendes, viereckiges Marmorkreuz auf dem Boden liegen.

Voll Neugierde betastete er ehrfürchtig den seltsamen Fund und urplötzlich stund ein großes Kloster mit zwei mächtigen Glockentürmen vor seinen Augen. Ein bleicher Mönch trat aus der schmalen Klosterpforte heraus und winkte mit der Hand dem verdutzten Bauernburschen. Der Knecht folgte dem Mönch, durch eine weite Säulenhalle kam er in einen hohen, dämmerigen Kirchenraum. Ein schwarzer Vorhang trennte Chor und Schiff. Als der Mönch den Saum des Vorhanges mit der Hand berührte, rollte der Vorhang langsam in die Höhe. Der Bauernbursch sah nun im Chor reichverzierte Chorstühle, in einem jeden saß ein schlafender Mönch, auf erhöhtem Sitz thronte der Abt, der auf dem Haupte eine glänzende Inful trug. Der Mönch schritt nun mit dem Knecht vor den Sitz des greisen Klostervorstehers. Der Abt öffnete die Augen weit und frug mit dunkler, wehmutsvoller Stimme: "Welche Zeit ist draußen?" Der verwirrte Knecht glaubte, die Frage gelte ihm und erwiderte schnell: "Es wird halb fünf sein, gnädiger Herr".

Da brauste ein wilder Sturm durch die Kirchenhalle, alles verschwand und der Knecht von Menzingen saß halb betäubt auf einem großen Stein. Hätte er geschwiegen, er wäre ein goldreicher Mann geworden.

Quelle: Hans Koch, Zuger Sagen und Legenden, Zug 1955, S. 54