Die Mühlebachdame

Auf dem Geißboden entspringt der Mühlebach und stürzt durch ein wildes Waldtobel über harte Felsen gegen Oberwil zu, wo er sich dann mit den Wassern des Zugersees vereinigt.

Vor Zeiten diente bei einem Bauern eine junge Magd. Diese warf ihr lediges Kind in das wilde Tobel des Mühlebaches. Nach ihrem Tode mußte die Bauernmagd ihre Freveltat büßen und in mitternächtlicher Stunde am Mühlebach hin- und herwandeln. Sie erschien oftmals jungen Burschen, die zur Nachtzeit gegen den Geißboden hinauf wanderten. Die Magd trug immer eine ländliche Tracht. Bis ins Dörfchen Oberwil hinein wagte sie sich aber nie. Am Mühlebach war ein großer, ausgenagter Stein. Dort hat sie wohl ihr Kind ertränkt, und man behauptet, die Magd dort schon bei hellem Tage gesehen zu haben, wie sie etwas wusch.

Als ein Bursche von Oberwil davon erfuhr, ging er hin und beschmutzte diesen Stein in unflätiger Art und Weise. Doch des Abends war es dem Burschen nicht ganz geheuer zu Mute. Er überwand jedoch die Furcht und legte sich zur Ruhe nieder. Da es Zwölfe schlug, pochte es laut an der Haustüre. Wer war das wohl? Vorsichtig öffnete er sein Kammerfenster und blickte hinaus. Es überfiel ihn ein leises Frieren und Frösteln, denn vor dem Hause stund die Mühlebachdame. Mit drohenden Worten befahl sie ihm, sofort den beschmutzten Stein wieder zu reinigen. Der Bursche fürchtete sich nicht wenig und schlug der Erscheinung die drohende Aufforderung ab. Da ihm aber die Mühlebachdame Sicherheit versprach, gehorchte er und machte sich auf den Weg nach dem fraglichen Steine. Er reinigte den Waschplatz der Bauernmagd und kehrte flink wieder nach Hause zurück, ohne auf dem Wege der Mühlebachdame zu begegnen.

Zwei Bauern vom Walchwilerberg behaupteten, die Mühlebachdame auch gesehen zu haben. Einer wurde gewarnt, des Nachts über den Geißboden zu gehen, als er trotzdem ging, begegnete er auch der Erscheinung. Vor Schrecken konnte er mehrere Minuten nicht mehr vom Platze weggehen, nach Hause angelangt, mußte er längere Zeit das Bett hüten, so hatte ihm die Erscheinung der wandelnden Kindsmörderin zugesetzt.

In der Nähe der Quelle des Mühlebaches liegt ein Hof, der Widishof. Einige Knechte wachten um Mitternacht bei einer Kuh. Da es ihnen langweilig wurde, erzählten sie einander Geschichten und kamen auch auf die Mühlebachdame zu sprechen. Einer ging voll Übermut hinaus und wollte die Dame verspotten, indem er rief: "Mühlebachdame, chum, wenn's neumis mit dir ischt!" Doch kaum war das Spottwort seinem Munde entflohen, da befiel ihn arger Schrecken und er sprang in den Stall zurück und schlug die Holztüre zu. Kaum war er wieder bei seinen Genossen im Stall, als das ganze Gebäude erzitterte ob einem an die verschlossene Stalltüre geschleuderten Stein.

Quelle: Hans Koch, Zuger Sagen und Legenden, Zug 1955, S. 75