Das Totenbein

Vor vielen, vielen Jahren, als unser liebes Schweizerland nur dreizehn regierende Orte zählte, wurde von einem jähzornigen Zuger ein recht böses Verbrechen begangen. Der Zuger erschlug einen Miteidgenossen und begrub den Leichnam des Gemordeten in der Nähe eines Steinbruches. Über das frische Grab wälzte der Mörder einige Steinblöcke. Das böse Gewissen ließ ihm aber dennoch keine Ruhe. Immer glaubte er, daß sein scheußliches Verbrechen entdeckt werden könnte und er floh darum aus dem Zugerland in die Fremde. Dort nahm er Solddienste an und hoffte als Söldner seine Untat vergessen zu können.

Als er ein alter Mann geworden und des wilden Kriegsdienstes müde war, zog es ihn unwiderstehlich in seine alte Zugerheimat zurück.

Bevor der alte Kriegsknecht ins Dorf kam, führte ihn der Weg an jener grauenvollen Mordstätte vorbei. Während seiner jahrelangen Abwesenheit hatte sich aber die Gegend stark verändert. Wo einstens der Steinbruch stand, war jetzt eine grüne Wiese und am Wege blühte ein prächtiger Heckenrosenstrauch. Von diesem Strauch riß der Söldner einen Rosenzweig ab und schmückte damit seinen Hut.

Beim Betreten des Heimatdorfes wurde es dem Krieger aber gar eigen zu Mute. Kein Mensch grüßte ihn, alle wandten sich verachtungsvoll ab, nachdem sie mit bösem Blick auf seinen Hut geschaut hatten. Der Söldner konnte sich das Gebahren seiner ehemaligen Dorfgenossen nicht erklären, bis einer von ihnen fragte: "Was trägst du einen eigenartigen Hutschmuck?" Der Gefragte erwiderte lachend : "Kennst du denn unsere Rosen nicht mehr?" Zugleich zog er seinen Hut vom struppigen Kopf und wollte das Heckenröslein seinem Mitbürger zeigen. Aber welch ein Schrecken befiel ihn, statt des duftenden Rösleins steckte ein gebleichter Menschenknochen auf seinem Hute.

Erschrocken bekannte der Krieger seine vor vielen Jahren begangene Bluttat. Man führte sogleich den Mörder ins Gefängnis und bald verurteilte ihn das Gericht zum Tode. Bevor aber das Urteil an ihm vollzogen werden konnte, starb er im Gefängnis. Dort wo der verräterische Rosenstrauch aber gestanden, gruben die Dorfbewohner nach und fanden die Gebeine des so elendiglich Erschlagenen und begruben sie in geweihter Kirchhoferde.

Quelle: Hans Koch, Zuger Sagen und Legenden, Zug 1955, S. 57