Der goldene Kirchturmknopf von Körösfö
Schafhirt in Ungarn, Wilhelm Roegge
Schafhirt in Ungarn,
Textillustration von Wilhelm Roegge

Im Sároser Komitate liegt ein armseliges Dörflein namens Körösfö. Nicht weit davon dehnt sich die Heide aus, mit spärlichem Graswuchs bedeckt.

Das war das Reich des Schafhirten (Juhasz), der da, auf seinen langen Stab gelehnt, seine kleine Herde behütete. Er trug Speck und Brot in der Tasche, und wenn er nicht aß, dachte er nach. Und er hatte viel zu denken, der Mischka. Vor allem über das Schicksal seines Dörfleins, von dem ihm schon der Großvater viel erzählt hatte.

Am Karfreitag war der Mischka schon als Bub auf die Heide gegangen und hatte sich platt auf den Boden gelegt und sein Ohr fest an das Gras gepreßt. Und wirklich, einmal hatte er ganz deutlich ein leises Glockensummen und ein Wimmern wie von vielen, vielen Menschenstimmen gehört und war voll Angst und Schrecken nach Hause gelaufen.

Da hatte ihm nun sein Großvater folgendes erzählt:

Vor vielen Jahren war Körösfö ein großer Ort mit vielen stattlichen Häusern und die Bewohner trieben Bergbau und waren sehr reich, aber auch sehr üppig und übermütig.

Die Männer trugen nur silberne Knöpfe an ihren Röcken und goldene Sporen an den Stiefeln. Wenn aber eine Hochzeit im Orte war, so hatte der Bräutigam ein Hemd aus feinstem weißen Battist an und seine weiten Gatjen waren mit seidenen Fransen besetzt; die Braut aber trug ein goldenes, mit Perlen geschmücktes Diadem auf dem Kopfe. Und die Guba (der Schafpelz) des Gulyás (Rinderhirten) war mit goldenen Blumen durchwirkt und die Axt an seinem Stock (Bunkos) war aus Gold; der Roßhirt aber hatte einen Peitschenstiel aus Silber, mit dem er lustig durch die Straßen knallte.

Die Leute aßen ihren Speck nur von goldenen Tellern und tranken ihren Pflaumenbranntwein nur aus Bechern von Silber.

Dabei aber vergaßen die Bewohner von Körösfö doch nicht auf den lieben Herrgott, und als der Pfarrer ihnen sagte, das Kirchlein des Dorfes sei für einen so reichen Ort viel zu klein und zu ärmlich, da ließen sie flugs aus der Hauptstadt einen Baumeister kommen. Der mußte ihnen eine Kirche erbauen, die noch größer und prächtiger werden sollte als der Dom zu Gran.

Und als das Gotteshaus mitsamt dem hohen Turm fertiggebaut [sic] war, da ließen die Bewohner von Körösfö einen goldenen Turmknauf darauf setzen, der war so groß, daß fünf Eimer Wein darin Platz hatten, und das goldene Kreuz auf dem Knopf maß ganze fünf Schuh und leuchtete so weit ins Land hinein, daß man es schon auf zehn Stunden Entfernung glänzen sah und alle Menschen weit herum in der Runde sich sagten:

"Seht, dort liegt Körösfö, das reichste Dorf im Ungarlande!"

Waren die alten Leute in Körösfö nur übermütig und hoffärtig, so wurden ihre Kinder und Enkelkinder böse und ruchlos. Auch verschmähten sie die Arbeit in den Erzgruben, die eine Quelle des Reichtums ihrer Vorfahren geworden war. Sie wurden in Speise und Trank immer leckerer und wählerischer, und hatten die Alten noch gern ihren Speck und Paprika gegessen, so wollten die Jungen nur noch Torten und Marzipan speisen und kleiden mochten sie sich auch nicht anders als die Magnaten und Edelfrauen.

Den alten Schullehrer jagten sie davon und verschrieben sich einen großen Gelehrten von weither, der mit einer goldenen Brille auf der Nase in schwarzem Samttalar und einer Spitzenkrause einherging und die Kinder über Afrika und Indien unterrichtete, von dem lieben Heimatlande ihnen aber gar nichts erzählte, denn das war dem gelehrten Herrn viel zu geringfügig und gewöhnlich.

Als der alte Pfarrer starb, bestellte die Gemeinde gar keinen Seelsorger mehr, denn die Dorfleute glaubten schon längst nicht mehr an den lieben Gott und brauchten daher auch keinen Verkünder seines heiligen Wortes.

Einst sollte ein großes Tanzfest stattfinden. Es war aber kein Saal im Orte, der groß genug gewesen wäre. Da kam ein besonders übermütiger Geselle auf den Gedanken, die Kirche zu benützen; sie stünde ohnehin schon lange leer und darin hätten leicht hundert Paar Tänzer und auch mehr Platz. Allerdings mahnten einige ältere Leute ab, solchen Frevel zu begehen; aber sie wurden verlacht, und als der Tag des Festes herangekommen war, füllte sich die Kirche bald mit lachenden und jauchzenden Paaren und Fiedel und Zimbel erklangen zum Csardas, wo sonst nur die Orgel die Gesänge der Andächtigen begleitet hatte.

Manche Dirne hatte wohl gezittert, als sie über die Stufen des Gotteshauses ins Innere getreten war, aber im wilden Taumel des Tanzes hatte sie bald des heiligen Ortes vergessen und die Nöte der Leidenschaft brannte auf ihren Wangen, die beim Eintritt in die Kirche blaß geworden waren.

Alles war wie vom Taumel freudiger Raserei ergriffen und niemand achtete der Landschaft draußen, aus der jedes Sonnenfünkchen verschwunden war und über der der fahle, schwefelgelbe Himmel wie ein Sargdeckel lag.

Auf einmal, als der Taumel sündiger Lust in der zum Tanzsaal entweihten Kirche den Höhepunkt erreicht hatte und Zimbel und Fiedel in den schrillsten Tönen erklangen, fuhr ein furchtbarer Blitz vom Himmel, dem ein betäubender Donnerschlag folgte. Die Erde bebte in ihren Grundfesten; ein furchtbarer Abgrund klaffte auf und verschlang die Kirche mit allen Menschen, die darin waren, und alle Häuser des Dorfes, von dem keine Spur mehr am Erdboden zurückblieb.

Die Bewohner hatten in ihrem frevelhaften Übermute gar nicht darauf geachtet, daß sie der Entweihung ihres Gotteshauses noch den weiteren Frevel hinzugefügt hatten, ihr Tanzfest gerade an einem Karfreitag zu veranstalten.

Deshalb hört man noch jetzt am Karfreitag auf der Heide draußen ein leises Summen von versunkenen Glocken und ein Wimmern und Klagen wie von sterbenden Menschen aus dem Innern der Erde hervordringen, wenn man in stiller, lautloser Nacht das Ohr an den Boden hält, und auch unser Mischka hatte als Bub dieses seltsame, unheimliche Gesumme und Gewimmer vernommen und es sich nicht zu deuten gewußt, bis ihm sein Großvater von der versunkenen Kirche mit dem ungeheuren goldenen Turmknauf und dem Goldkreuze erzählt hatte, das einst viele Stunden weit geleuchtet und geglänzt hatte: der goldene Turm von Körösfö.

Quelle: Sagenbuch aus Österreich und Ungarn. Sagen un Volksmärchen aus den einzelnen Kronländern und aus den Ländern der Ungarischen Krone. Leo Smolle. Wien, Budapest, Stuttgart [1911]. S. 165 - 168