DER EINKEHRENDE ZWERG

Da, wo die Lütschine das eigentliche Tal Grindelwald verläßt, befindet sich die Ortschaft Burglauenen, nördlich der Lütschine an einem Abhang liegend. Sie gehört in die Kirchgemeinde Grindelwald, ist aber von dem Tal durch zwei, fast in die Lütschine hinausragende Felsvorsprünge abgeschlossen. Von dieser Gegend erzählt eine Volkssage:

Da, wo jetzt Burglauenen ist, stand in alter Zeit ein Dorf namens Schillingsdorf, das bewohnt war von bösen Leuten. An einem Abend bei stürmischem Regenwetter ging ein Zwerg im Dorf umher und bat um Herberge. Er wurde aber immer abgewiesen, bis er endlich bei einem Haus, wo nur arme Leuten waren, und wo man gerade die Geburt eines Kindes erwartete, mitleidig aufgenommen und so gut als möglich verpflegt wurde. Den Leuten dieses Hauses zeigte der Zwerg an, daß in derselben Nacht Schillingsdorf untergehen und nur ihr einziges Haus als das würdigste bleiben solle. Um Mitternacht fing es fürchterlich an zu krachen. Ein Teil der Burg, welcher schon früher abgespalten war, riß sich los, bildete eine ungeheure Schuttlawine und rollte unter entsetzlichem Donner dem Dorf zu. Dieses wurde fast ganz verschüttet und zertrümmert, so daß nur wenige Menschen lebend davonkamen außer denen, die den Zwerg über Nacht behielten. Dieses Haus soll dadurch gerettet worden sein, daß ein Felsblock, groß wie ein Haus, welcher dem Schutt vorangekommen war, sich gerade hinter dem Haus festlagerte und den Schutt hinter sich aufhielt oder neben sich abwies. Man sieht noch deutliche Spuren von einem solchen Bergsturz. Bei der Burg ist zu sehen, daß ein Stück der ganzen Höhe und Breite, etliche Klafter dick, weggerissen ist. Untenher nimmt man die Strömungen des Schuttes wahr. Große Felsen liegen wie gesät umher, teils aus der Erde hervorragend, teils auf der Oberfläche liegend. Alles ist jetzt wieder mit Pflanzen bedeckt. - Auch derjenige Fels, welcher Retter jenes Hauses gewesen sein soll, scheint noch jetzt als Zeuge dazustehen und ein dort stehendes Haus wird noch jetzt mächtig vom Felsen beschirmt.

(Mündlich aus Grindelwald)

Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858