DER GLETSCHER OB FLIMS

Oberhalb von Flims in Graubünden lag eine grüne Alp, welche einer Witwe gehörte. Nebenan waren die Besitzungen eines reichen Mannes. Dieser behauptete, der Witwe Alpe gehöre ihm, denn ihr seliger Mann habe sie ihm in einem Schuldbrief verschrieben. Die Witwe wußte aber wohl, daß die Alp ihrem einzigen Sohn bestimmt war. Als sie vor den Richter kamen, sprach dieser, vom Reichen bestochen, die Alp demselben zu. Kaum hatte er sie aber drei Tage besessen, so brach ein Unwetter los; es stürmte und donnerte, und es fiel ein solcher Schnee, daß in kurzer Zeit die weidereiche Alpe mit einem Gletscher überdeckt war. Noch steht jetzt die Eismasse da, wo die Alpe der Witwe gegrünt hat, und ringsum blühen Gras und Kräuter.

(Vgl. A. Flugi, Volkssagen aus Graubünden und Bündner. Volksblatt)

Ch. Tester in Chur hat mir die Sage so erzählt:

Der Weg von Flims nach dem Glarnerland führt links am Flimser Stein vorbei über den Segneser Paß. Dort liegt die verschneite Alpe, in alten Zeiten gesegnet und reich an saftigen Kräutern. Ein kleines Stückchen dieser Alpe gehörte einer armen Witwe, der übrige Teil einem reichen, gewalttätigen Mann, welcher die Witwe um ihren Anteil beneidete und sie um denselben anfocht. Er behauptete, durch einen Handel mit ihrem verstorbenen Mann Eigentümer ihres Anteils geworden zu sein. Die Witwe suchte Schutz und Hilfe vor Gericht. Ihre Klagen und Tränen rührten das harte Herz des Geizhalses nicht. Er schwur vor Gericht, daß die Sache sich also verhalte und das Besitztum der Witwe wurde ihm zugesprochen. Da rief die Witwe vor den Richtern ihm zu: "Wenn die Alp dir gehört, so wünsche ich, daß sie dir wohl diene, gehört sie dir aber nicht, und hast du falsch geschworen, so wünsche ich, daß der Himmel sie zuschneie und daß sie nicht wieder apere und grün werde." Der reiche Mann lachte höhnisch, während die arme Witwe in Tränen ausbrach. Stumm saßen die Richter da und kaum hatte die Witwe ihre Worte gesprochen, so hörte man den Sturmwind brausen und der Regen schlug an die runden Fensterscheiben der Gerichtsstube. Im Gebirge fielen dichte Schneeflocken und es bewies sich, daß der reiche Mann einen Meineid geschworen hatte, denn in drei Tagen und Nächten war die Alpe zugeschneit und ist seither niemals mehr vom Schnee frei geworden. Eine eisige Gletscherrinde bedeckt den verfluchten Boden, zur Warnung für alle, die Gewalt und Unrecht tun. -

(Mündlich)

Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858