DAS MILCHHORN UND DER JOHANNISZIEGER

Nördlich von Unterseen ist das Habkern- (früher Hackeren-) Tal. Aus seinem Hintergrund, von der Lohmbachalp, fließt der Lohmbach, der oft noch durch Überschwemmungen furchtbar wird. Ein geheimnisvolles Männchen, heißt es, komme jedesmal vor dem Anlaufen des Wassers im Runse (Flußbett) dahergeschritten, und schlage rechts und links mit einem langen Stock an das Ufer, wo es vom Schwall fortgerissen wird. Bei St. Niklausen, wo der Bach aus der Talschlucht kommt, hat früher eine Kapelle gestanden. Im Hintergrund des Tales aber, wo der Pfad nach dem schrecklichen verwilderten Hohgant ansteigt, an der Grenze des Kantons Luzern, liegt eine Alpe mit Namen Ällgäu, in welcher ein durch Menschenhand aufgeworfener Erdwall von beträchtlichem Umfang für den Überrest einer Stadt gehalten wird. Die Volkssage versetzt dunkle Geschichten hieher, von denen vieles nunmehr fast verschollen ist. Eine Streifschar Entlibucher überfiel einst auf dieser Alp die Herden und die Sennen der Oberländer und ermordete sie grausam. Die Küher wurden in siedender Molke erstickt. Da entsprang ein rüstiger Hirtenjunge mit einem hölzernen Milchtrichter, einer Volle, in der Hand. Der stellte sich hin auf eine Höhe des Habkerntales und schrie durch die Volle wie durch ein Sprachrohr hinaus gegen den Talboden von Unterseen, daß über der Gewalt des Rufens der Leib barst. Drunten vernahm's zuerst seine Geliebte, die lief und bot das Landvolk auf zum Kampfe, bis eine Menge Bewaffneter emporzog und die Entlibucher bei der Wehri schlug, wo in neuerer Zeit noch Gefäße von Schwertern ausgegraben worden sind.

Zu anderer Zeit herrschten im Ällgäu verderbende Seuchen unter dem Alpvieh. Kein Mittel half, bis endlich eine wohltätige Spende an die Armen dem Übel ein Ende machte. Dazu hatte ein weiser Mann geraten. Zum Andenken sammeln alljährlich am Sonntag nach Johannis auf dem Kirchhof von Unterseen alle Armen der Gegend mit kleinen Gefäßen, und sobald abends die Vesperglocke erschallt, erscheinen die Weiber und Töchter der Begüterten mit großen hölzernen Geschirren, in welchen ein Käs und ein Ziegerrumpf zerstückelt eingebrockt sind. Beides wird verschenkt und die Gabe gilt für das Erzeugnis der Alp Ällgäu am St. Johannistag, von welchem das Geschenk der Johanniszieger genannt wird.

(Aus Unterseen)

Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858