UNTERGANG EINES SENNEN, SEINER KATHRIN UND SEINES HÜNDCHENS

Die Bergseite des Unteraargletschers ist mit einzelnen Arven (Zirbelkiefer) geziert, als Überbleibsel und Zeugen einer ehemals reicheren Vegetation, die dieses Berggelände schmückte. Denn auch von dieser Gegend geht die Sage von einer ehemals schöneren Zeit. Der nun von der Aare zerfressene, vom Geschiebe und den Eislasten eines Gletschers bedeckte Talboden soll einst eine fruchtbare Alpe gewesen sein. Die Ursache ihrer Zerstörung bildet den Stoff zu einer ähnlichen Sage, wie sie von dem benachbarten Gauligletscher erzählt wird. Hin und wieder sollen die Hirten der Aaralp mit der Erscheinung eines kopflosen Walliser-Weibleins überrascht werden und ein Knecht behauptete in allem Ernste, als er einmal die Ziegen gemolken, sei jenes kopflose Weiblein dicht zu ihm hingetreten.

Da, wo jetzt der mächtige Gauligletscher den breiten Talgrund ausfüllt, war vor Zeiten, als Besitztum einer reichen Sennerin, die schöne Blümlisalp gelegen. Noch vor wenigen Jahren soll das Gletscherwasser Holz von einer Sennhütte aus dem Inneren der Gletschermasse hervorgespült haben. Schlechte Handlungen zogen jener Sennerin die Strafe des Himmels zu. Die Alpe ward auf ewige Zeiten verflucht und unter der Eisdecke des Gletschers begraben. Die Sennerin, ein kleiner Hund, eine fremde Person und die ganze schöne Herde gingen zugrunde.

Es wird nun diese Sennerin in der Gegend noch heutzutage mit dem Namen Gauliweibchen (Gauliwibli) bezeichnet. Sie und ihr Hündchen sollen zuweilen den Hirten im Gauli erscheinen. Ein Mann, dem sie sich offenbarte, hörte sie die Worte ausrufen: "l und mi Kathrin und mini Kuh brün und min Hund Rhin müssen immer und ewig auf Blümlisalp sin." Hin und wieder soll auch das Glockengeläute des unsichtbaren Viehs vernommen werden.

Von dem Turtmanngletscher im Wallis erzählt man ähnliches:

Auf der Stelle, wo jetzt der Turtmanngletscher seine blauen Eislasten ausbreitet, befand sich einst die schönste Alpe des Tales, Blümlisalp geheißen. Der Senn hatte ein schwarzes Hündlein und eine Jungfrau namens Kathrin, mit welcher er ein unzüchtiges Leben führte, während er seinen alten, blinden Vater auf unmenschliche Weise behandelte. In einer Nacht brach ein furchtbares Gewitter los. Der harte Sohn befahl seinem Vater, das entlegene Vieh einzutreiben. Dieser gehorchte mit bitterem Schmerze, von dem Sohn Übles befürchtend, wenn er seinem Gebote sich nicht fügen würde. Da geschah es aber, daß der blinde Vater, als er in den wilden Sturm hinausgetreten war, ohne sein Wissen in seltsamem Drange sich immer weiter von der Alpe entfernte, und daß alle Kühe ihm nachzogen. In derselben Stunde brach der Gletscher los von den festen Höhen und bedeckte plötzlich die schöne Alpe für immer mit seinen turmhohen Massen. Der strafwürdige Senn, das arge Weib und das Hündlein, fanden ihr Grab unter den Trümmern der eingestürzten Wohnung, und kein menschliches Auge kann den Ort so vieler Freveltaten mehr erblicken. Noch jetzt wollen die Talbewohner, kurz vor eintretenden Wasserverheerungen zuweilen das schwarze Hündlein sehen und eine menschliche Stimme hören, die die Worte ruft: "Ich und min Kathrin müssen immer und ewig auf Blümlisalp sin."

Auf der jetzt vergletscherten Oberplegi-Alp am Glärnisch war auch ein Senn gewesen, der sich versündigt hatte mit einer Jungfrau Kathrin. Er hatte eine Treppe aus Käse erbaut und seiner alten Mutter Mist zur Speise vorgelegt. Da stürzte der übermütige Frevler einmal mit der Kathrin in eine Gletscherspalte und soll nur zuweilen, ganz in Flammen stehend, von den Leuten gesehen werden und die Worte ausrufen: "Oh, ich und Kathrin und Pari (der Name seines Hundes) müssen immer und ewig unterm Firren si." Eine ganz ähnliche Sage geht von den Clariden.

(G. Studer, Mittheilungen aus dem Alpengebirge, vgl. auch Grimm)

Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858