DER URDENSEE

Vom Rothorn weg zieht sich ein enges Bergtal hinunter zur Plessur. In diesem wilden, engen Tal, das im Sommer von einigen Schafen besucht wird, liegt ein kleiner Bergsee.

Wo jetzt der See ist, stand vor Zeiten eine Sennhütte und um die Hütte herum breitete sich eine schöne Alp. Dort wohnte ein böser Senn, der die Armen unerquickt des Weges ziehen ließ. Einst kam ein armes, altes, schwaches Weib den Weg gezogen, müde von der weiten Reise und schmachtend vor Durst. Sie klopfte an der Sennhütte an und bat um eine Labung, aber der Senn antwortete ihr mit Scheltworten: "Mach dich fort, alte Bettlerin, wenn ich allem Lumpenpack, das hier vorüberzieht, Milch geben sollte, so müßte ich selbst bald Hungers sterben." Das arme, alte Weib flehte um Gotteswillen nur um eine kleine Labung, damit sie ihren Weg fortsetzen könne. "Meine Knie brechen mir", sagte sie, "und meine Zunge brennt mich wie Feuer." Der Senn aber schlug die Tür zu. Das Weib sank vor der Türe nieder und als der Senn sie wieder öffnete und es noch dort erblickte, rief er fluchend aus: "Bist du noch da, Alte, wart, ich will dir jetzt Milch geben, daß dein Durst gestillt wird." Mit diesen Worten nahm er den Eimer und molk seine große, rote Kuh und kam dann zum Weib und gab ihm zu trinken. Die Alte trank und dankte dem Senn warm und erflehte Gottes Segen auf ihn herunter. Der Senn aber verzog seine Züge zu einem spöttischen Hohnlächeln, denn er hatte Magen (Lab) in die Milch geworfen. Kaum hatte die Alte neugestärkt ihren Weg eine Strecke weit fortgesetzt, als sie die fürchterlichsten Schmerzen im Leibe fühlte und wie sie sterbend hinsank, verfluchte sie den Senn und seine Alpe, und in dem Augenblick donnerte es in der Höhe, ein Blitz zuckte auf die Hütte, sie versank mit dem Senn und mit der roten Kuh und an jener Stelle quoll ein See. Noch sieht man den Weg, der zur Hütte führte, sich im See verlieren und noch sieht man deutlich denselben am jenseitigen Ufer wieder aus dem Wasser auftauchen und sich in die Höhe ziehen, denn bei der Sennhütte vorbei führte der Weg über das Gebirge nach Obervaz. Noch sieht man mitten im See einen schwarzen Fleck, das ist die Sennhütte, die dort versunken ist. Alle sieben Jahre einmal steigt bei furchtbarem Donner und Unwetter der Senn aus dem See hervor und melkt über den stürmischen Wellen des Sees seine rote Kuh und versinkt dann händeringend wieder mit fürchterlichem Geheul. Das ist die Entstehung des Urdensees.

(Mitgeteilt von Chr. Tester in Chur)

Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858