DAS ZYPRION

Hoch über dem linken Rheinufer in Bünden erhebt sich die Bergkette Calanda. Die Höhen derselben sollen früher viel fruchtbarer gewesen sein als jetzt. Die Kühe, welche man dreimal des Tages gemolken, nährten sich namentlich von einem Kraut, das Zyprion hieß, auch von Muttern, Ritz und Milcherkraut. Stellen, die jetzt öde sind, waren früher mit dem herrlichsten Grün bekleidet.

Auf diesen grünen Weiden lebten fröhliche Sennerinnen. Einst aber erwachte unter ihnen ein böser Geist. Sie zogen um Mitternacht auf den Hexenboden, wo jetzt noch schwarzes Gras wächst. Hier versammelten sie sich und hielten ihre nächtlichen Tänze. Sie wurden einst überrascht von einem Jäger, der einer Gemse dahin gefolgt war. Die jüngste Sennerin ging auf ihn zu und bot ihm lächelnd ihre Hand. Von ihrer Schönheit geblendet, ließ er sich lange von ihr zurückhalten. Und als der Morgen tagte, eilten alle zu Tal, um die Kühe zu melken. Die Sennerin saß aber noch immer bei ihrem Jäger, von dem sie sich nicht trennen konnte. Da rief ihr eine ihrer Schwestern zu: "Komm, die Kühe warten schon da unten!" - "Ach", entgegenete sie, "immerfort melken! Ich wollte, ich wollte, daß die Kräuter längst verdorrt wären." So verfluchte sie das Zyprion, Muttern und Ritz. Und als der Jäger das hörte, sprang er auf und rief: "Behüte mir Gott das Muttern und Ritz!" Das Zyprion hatte er vergessen.

Darauf sind alle Weiden verblaßt. Noch sieht man jetzt das Zyprion als falbes Kraut, wie vom Winterfrost verdorrt. Wenn man es bricht, so sieht es weiß aus wie Milch, aber keine Kuh frißt davon.

(Nach Alfons v. Flugi)

Chr. Tester in Chur erzählte mir die Sage so:

Vor Zeiten war der Cyprian in den Graubündner Alpen ein saftiges, milchreiches Kraut, welches die Kühe gerne fraßen, und in Alpen, wo es reichlich vorhanden war, gaben die Kühe so viel Milch, daß man sie dreimal im Tag melken mußte. Wie aber der Cyprian seine frühere Beschaffenheit verloren hat, erzählt die Sage folgendermaßen: Ein Weib klopfte müde und durstig an einer Sennhütte an und bat um einen Trunk Milch. Der Senn aber, ein hartherziger und böser Mann, weigerte sich, ihr auch nur einen Tropfen zu reichen, und als sie mit Bitten in ihm drang, wies er sie aus der Hütte und schlug scheltend und fluchend die Tür hinter ihr zu. Das Weib sank draußen auf einen Stein nieder, zu schwach, um ihren Weg weiter fortzusetzen, und rief die Rache des Himmels an, er möge alle Kräuter, Cyprian, Gras, Laub, überhaupt alles was grün ist und Milch gibt, auf Spitzen und Bergen verdorren lassen. Da rief eine Stimme von oben:


"Den Cyprian, den will der lan,
Laub und Gras, das laß mehr stan."


So blieben Laub und Gras und alle anderen Kräuter bewahrt, aber der üppige Cyprian verwandelte sich von Stunden zu einem dürren, saftlosen Moos, das die Kühe nicht anrühren. Noch sieht man am Cyprian deutlich die weißen Adern, welche ehemals Milch enthielten, sie sind aber vertrocknet und fließen nicht mehr.

(Mündlich)

Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858