Zum Abendessen eingeladen
Ein mondänes Diner in Neuilly, dem eleganten Vorort der Hauptstadt.
Ein eingeladenes Ehepaar hat an diesem Abend seine zwei Kinder allein
zu Hause gelassen: Der zehnjährige Junge, den man entsprechend instruiert
hat, soll auf die kleine vierjährige Schwester aufpassen. Er soll
niemandem öffnen, um neun Uhr schlafen gehen - das ist ein Versprechen!
-, und für den Fall, daß etwas passiert, liegt die Nummer der
Freunde, bei denen Papa und Mama eingeladen sind, unübersehbar neben
dem Telefon.
Um zehn Uhr klingelt das Telefon: Der Junge ist am Apparat. Halb weinend
und halb lachend sagt er ganz aufgeregt: "Papa, ein Dieb ist eingedrungen.
Ich habe ihn getötet." Der Vater hält das zunächst
für ein Märchen, rollt mit den Augen und versucht, den Jungen
zu beruhigen, doch dieser teilt ihm eine Fülle von beunruhigenden
Einzelheiten mit. "Und das ist doch wahr. Ich habe ihn mit deinem
Revolver erschossen, der in deiner Schreibtischschublade lag. Einen großen
Mann mit einer Maske vor dem Gesicht. Er liegt im Wohnzimmer auf dem Boden."
Schließlich macht sich der Vater wirklich Sorgen: "Ich komme."
Der Dieb liegt tatsächlich auf dem Teppich des Wohnzimmers ... Die
Polizei trifft ein. Man dreht die Leiche um, sieht das Gesicht. Ein Aufschrei:
Es war der zweiundzwanzigjährige Sohn der Freunde, bei denen die
Eltern diniert hatten.
Das hat sich vor ein paar Wochen ereignet. Es wurde keine Strafanzeige
erstattet, man hat das Verfahren eingestellt und die Angelegenheit zu
den Akten gelegt.
Anmerkung: Die historischen Ursprünge dieser Sage
reichen weit zurück:
In Albert Camus' Roman Der Fremde entdeckt der im Gefängnis
sitzende Meursault zufällig eine Zeitung, in der ein Bericht über
einen Vorfall abgedruckt ist, der sich angeblich in der Tschechoslowakei
ereignet hat:
"Ein Mann war aus einem tschechischen Dorf aufgebrochen, um sein
Glück zu machen. Nach fünfundzwanzig Jahren war er reich und
mit Frau und Kind zurückgekehrt. Seine Mutter unterhielt mit seiner
Schwester in seinem Geburtsort ein Hotel. Um sie zu überraschen,
hatte er seine Frau und sein Kind in einem anderen Gasthof gelassen, war
zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannt hatte, als er hereinkam.
Er war auf die Idee gekommen, zum Spaß ein Zimmer zu nehmen. Er
hatte sein Geld gezeigt. Nachts hatten seine Mutter und seine Schwester
ihn mit einem Hammer totgeschlagen, um ihn auszurauben, und hatten seine
Leiche in den Fluß geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen, hatte,
ohne es zu wissen, die Identität des Reisenden enthüllt. Die
Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen
gestürzt."
Bereits 1613 setzte eine in unregelmäßigen Abständen erscheinende
Pariser Zeitung die folgende Überschrift auf die erste Seite: "Wundersame
und erschreckliche Geschichte von einem Vater und einer Mutter, die den
eigenen Sohn gemeuchelt haben, ohne ihn zu erkennen. So geschehen in der
Stadt Nismes [Nîmes] im Languedoc, im letztvergangenen Monat Oktober
des Jahres 1613." 1848 und 1881 wurden ähnliche Anekdoten veröffentlicht
Quelle: Le Monde, "Au fil de la semaine" ["Chronik der Woche"], 2. - 3. Juli 1972, in: Jean-Noël Kapferer, Gerüchte - Das älteste Massenmedium der Welt, Paris 1987/95, Leipzig 1996, S. 181