GOTTES SPEISE
Es waren einmal zwei Schwestern, die eine hatte keine Kinder und war reich,
die andere hatte fünf Kinder und war eine Witwe und war so arm, daß
sie nicht mehr Brot genug hatte, sich und ihre Kinder zu sättigen.
Da ging sie in der Not zu ihrer Schwester und sprach 'meine Kinder leiden
mit mir den größten Hunger, du bist reich, gib mir einen Bissen
Brot.' Die steinreiche Frau war auch steinhart, sprach 'ich habe selbst
nichts in meinem Hause,' und wies die Arme mit bösen Worten fort.
Nach einiger Zeit kam der Mann der reichen Schwester heim und wollte sich
ein Stück Brot schneiden, wie er aber den ersten Schnitt in den Laib
tat, floß das rote Blut heraus. Als die Frau das sah, erschrak sie
und erzählte ihm, was geschehen war. Er eilte hin und wollte helfen,
wie er aber in die Stube der armen Witwe trat, so fand er sie betend;
die beiden jüngsten Kinder hatte sie auf den Armen, die drei ältesten
lagen da und waren gestorben. Er bot ihr Speise an, aber sie antwortete
'nach irdischer Speise verlangen wir nicht mehr; drei hat Gott schon gesättigt,
unser Flehen wird er auch erhören.' Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen,
so taten die beiden Kleinen ihren letzten Atemzug, und darauf brach ihr
auch das Herz, und sie sank tot nieder.
Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-15, Kinderlegenden - Nr. 5