DER HAHNENBALKEN
Es war einmal ein Zauberer, der stand mitten in einer großen Menge
Volks und vollbrachte seine Wunderdinge. Da ließ er auch einen Hahn
einherschreiten, der hob einen schweren Balken und trug ihn, als wäre
er federleicht. Nun war aber ein Mädchen, das hatte eben ein vierblättriges
Kleeblatt gefunden und war dadurch klug geworden, so daß kein Blendwerk
vor ihm bestehen konnte, und sah, daß der Balken nichts war als
ein Strohhalm. Da rief es 'Ihr Leute, seht ihr nicht, das ist ein bloßer
Strohhalm und kein Balken, was der Hahn da trägt.' Alsbald verschwand
der Zauber, und die Leute sahen, was es war, und jagten den Hexenmeister
mit Schimpf und Schande fort. Er aber, voll innerlichen Zornes, sprach
'ich will mich schon rächen.' Nach einiger Zeit hielt das Mädchen
Hochzeit, war geputzt und ging in einem großen Zug über das
Feld nach dem Ort, wo die Kirche stand. Auf einmal kamen sie an einen
stark angeschwollenen Bach, und war keine Brücke und kein Steg, darüber
zu gehen. Da war die Braut flink, hob ihre Kleider auf und wollte durchwaten.
Wie sie nun eben im Wasser so steht, ruft ein Mann, und das war der Zauberer,
neben ihr ganz spöttisch 'Ei! wo hast du deine Augen, daß du
das für ein Wasser hältst?, Da gingen ihr die Augen auf, und
sie sah, daß sie mit ihren aufgehobenen Kleidern mitten in einem
blaublühenden Flachsfeld stand. Da sahen es die Leute auch allesamt
und jagten sie mit Schimpf und Gelächter fort.
Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-15, KHM 149