DIE KORNÄHRE
Vorzeiten, als Gott noch selbst auf Erden wandelte, da war die Fruchtbarkeit
des Bodens viel größer als sie jetzt ist: damals trugen die
Ähren nicht fünfzig- oder sechzigfältig, sondern vier-
bis fünfhundertfältig. Da wuchsen die Körner am Halm von
unten bis oben hinauf: so lang er war, so lang war auch die Ähre.
Aber wie die Menschen sind, im Überfluß achten sie des Segens
nicht mehr, der von Gott kommt, werden gleichgültig und leichtsinnig.
Eines Tages ging eine Frau an einem Kornfeld vorbei, und ihr kleines Kind,
das neben ihr sprang, fiel in eine Pfütze und beschmutzte sein Kleidchen.
Da riß die Mutter eine Handvoll der schönen Ähren ab und
reinigte ihm damit das Kleid. Als der Herr, der eben vorüberkam,
das sah, zürnte er und sprach 'fortan soll der Kornhalm keine Ähre
mehr tragen: die Menschen sind der himmlischen Gabe nicht länger
wert.' Die Umstehenden, die das hörten, erschraken, fielen auf die
Knie und flehten, daß er noch etwas möchte an dem Halm stehen
lassen: wenn sie selbst es auch nicht verdienten, doch der unschuldigen
Hühner wegen, die sonst verhungern müßten. Der Herr, der
ihr Elend voraussah, erbarmte sich und gewährte die Bitte. Also blieb
noch oben die Ähre übrig, wie sie jetzt wächst.
Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-15, KHM 194