VON DER NACHTIGALL UND DER BLINDSCHLEICHE
Es waren einmal eine Nachtigall und eine Blindschleiche, die hatten jede nur ein Aug und lebten zusammen in einem Haus lange Zeit in Frieden und Einigkeit. Eines Tags aber wurde die Nachtigall auf eine Hochzeit gebeten, da sprach sie zur Blindschleiche: »Ich bin da auf eine Hochzeit gebeten und möcht nicht gern so mit einem Aug hingehen, sei doch so gut und leih mir deins dazu, ich bring dir's morgen wieder.« Und die Blindschleiche tat es aus Gefälligkeit.
Aber den andern Tag, wie die Nachtigall nach Haus gekommen war, gefiel es ihr so wohl, daß sie zwei Augen im Kopf trug und zu beiden Seiten sehen konnte, daß sie der armen Blindschleiche ihr geliehenes Aug nicht wiedergeben wollte. Da schwur die Blindschleiche, sie wollte sich an ihr, an ihren Kindern und Kindeskindern rächen. »Geh nur«, sagte die Nachtigall, »und such einmal:
Ich bau mein Nest auf jene Linden,
so hoch, so hoch, so hoch, so hoch,
da magst du's nimmermehr finden!«
Seit der Zeit haben alle Nachtigallen zwei Augen und alle Blindschleichen
keine Augen. Aber wo die Nachtigall hinbaut, da wohnt unten auch im Busch
eine Blindschleiche, und sie trachtet immer hinaufzukriechen, Löcher
in die Eier ihrer Feindin zu bohren oder sie auszusaufen.
Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm,
Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-1857; in der Ausgabe letzter Hand
(1856/57) nicht mehr enthaltene Märchen früher Auflagen.