Die künstliche Orgel
Vor langen, langen Jahren lebte einmal ein sehr
geschickter junger Orgelbauer, der hatte schon viele Orgeln gebaut, und
die letzte war immer wieder besser als die vorhergehende. Zuletzt machte
er eine Orgel, die war so künstlich, daß sie von selbst zu
spielen anfing, wenn ein Brautpaar in die Kirche trat, an dem Gott sein
Wohlgefallen hatte. Als er auch diese Orgel vollendet hatte, besah er
sich die Mädchen des Landes, wählte sich die Frömmste und
Schönste und ließ seine eigene Hochzeit zurichten.Wie er aber
mit der Braut über die Kirchschwelle trat und Freunde und Verwandte
in langem Zuge folgten, war sein herz voller Stolzes und Ehrgeizes. Er
dachte nicht an seine Braut und nicht an Gott, sondern nur daran, was
er für ein geschickter Meister sei, dem niemand es gleichtun könne,
und wie alle Leute staunten und ihn bewundern würden, wenn die Orgel
von selbst zu spielen begönne. So trat er mit seiner schönen
Braut in die Kirche ein - aber die Orgel blieb stumm. Das nahm sich der
Orgelbaumeister sehr zu Herzen, denn er meinte in seinem stolzen Sinne,
daß die Schuld nur an der Braut liegen könne und daß
sie ihm nicht treu sei. Er sprach den ganzen Tag über kein Wort mit
ihr, schnürte dann nachts heimlich sein Bündel und verließ
sie. Nachdem er viele hundert Meilen weit gewandert war, ließ er
sich endlich in einem fremden Land nieder, wo niemand ihn kannte und keiner
nach ihm fragte. Dort lebte er still und einsam zehn Jahre lang: da überfiel
ihn eine namenlose Angst nach der Heimat und nach der verlassenen Braut.
Er mußte immer wieder daran denken, wie sie so fromm und schön
gewesen sei und wie er sie so böslich verlassen. Nachdem er vergeblich
alles getan, um seine Sehnsucht niederzukämpfen, entschloß
er sich, zurückzukehren und sie um Verzeihung zu bitten. Er wanderte
Tag und Nacht, daß ihm die Fußsohlen wund wurden, und je mehr
er sich der Heimat näherte, desto stärker wurde seine Sehnsucht
und desto größer wurde seine Angst, ob sie wohl wieder so gut
und freundlich zu ihm sein werde wie in der Zeit, wo sie noch seine Braut
war. Endlich sah er die Türme seiner Vaterstadt von fern in der Sonne
blitzen. Da fing er an zu laufen, was er laufen konnte, so daß die
Leute hinter ihm her den Kopf schüttelten und sagten: "Entweder
ist's ein Narr, oder er hat gestohlen." Wie er aber in das Tor der
Stadt eintrat, begegnete ihm ein langer Leichenzug. Hinter dem Sarge her
gingen eine Menge Leute, welche weinten. "Wen begrabt ihr hier, ihr
guten Leute, daß ihr so weint?" - "Es ist die schöne
Frau des Orgelbaumeisters, die ihr böser Mann verlassen hat. Sie
hat uns allen so viel Gutes und Liebes getan, daß wir sie in der
Kirche beisetzen wollen." Als er dies hörte, entgegnete er kein
Wort, sondern ging still gebeugten Hauptes neben dem Sarge her und half
ihn tragen. Niemand erkannte ihn; weil sie ihn aber fortwährend schluchzen
und weinen hörten, störte ihn keiner, denn sie dachten: Das
wird wohl auch einer von den vielen armen Leuten sein, denen die Tote
bei Lebzeiten Gutes erwiesen hat. So kam der Zug zur Kirche, und wie die
Träger die Kirchschwelle überschritten, fing die Orgel von selbst
zu spielen an, so herrlich, wie noch niemand eine Orgel spielen gehört.
Sie setzten den Sarg vor dem Altare nieder, und der Orgelbaumeister lehnte
sich still an eine Säule daneben und lauschte den Tönen, die
immer gewaltiger anschwollen, so gewaltig, daß die Kirche in ihren
Grundpfeilern bebte. Die Augen fielen ihm zu, denn er war sehr müde
von der weiten Reise; aber sein Herz war freudig, denn er wußte,
daß ihm Gott verziehen habe, und als der letzte Ton der Orgel verklang,
fiel er tot auf das steinerne Pflaster nieder. Da hoben die Leute die
Leiche auf, und wie sie inne wurden, wer es sei, öffneten sie den
Sarg und legten ihn zu seiner Braut. Und wie sie den Sarg wieder schlossen,
begann die Orgel noch einmal ganz leise zu tönen. Dann wurde sie
still und hat seitdem nie wieder von selbst geklungen.
Quelle: Richard von Volkmann-Leander, Träumereien an französischen Kaminen, Leipzig 1871, Nr. 1